05. Mai 2078
Berlin Köppenick, Bezirk;
Köpenick gehörte schon immer zu den grünsten Bezirken in Berlin, und auch während der Anarchie hat sich das nicht großartig geändert. Häuser zum Besetzen gab es in den Wäldern wenige, und so wurden diese zunehmend uninteressant, ein Großteil des Bezirkes wurde der Natur überlassen.
Als die Berliner anfingen, von der zerstörerischen Anarchie in grünes Miteinander zu wechseln, wurde auch dieser Bezirk wieder deutlich beliebter. Einzelne, inzwischen verfallene und teils zerstörte Häuser wurden wieder aufgebaut. Auf Bausicherheit oder Statik achtete dabei jedoch kaum einer. Wem diese Häuser einmal gehörten, interessiert heute niemanden mehr. Der Status F hat sämtliche Eigentumsverhältnisse zunichte gemacht. Der Große Blackout und ein paar gezielte Brände haben das Grundbuch gelöscht. Jedem gehörte, was er verteidigen konnte.
Ein wenig trifft das noch immer zu. Allerdings ist die Gesamtsituation ruhiger geworden. Die meisten überlegen es sich lieber zweimal, bevor sie sich von anderen besetzten Wohnraum aneignen. Man kommt mehr miteinander aus, als das noch vor einigen Jahren der Fall war.
Im Grunde sind aber doch alle Häuser im Osten noch immer besetzt. Es erhebt nur niemand Ansprüche. In den von Konzernen besetzten Gebieten, sowie denen unter Kontrolle von Konzernen, wurde ein neues Grundbuch erschaffen. Die Grundstücke gehören dort wieder jemandem. Es ist wohl wenig verwunderlich, dass die neuen Berliner Besetzer sich daran eine goldene Nase verdient haben.
In den meisten Fällen ist die Stimmung friedlich. Gerade die ganzen Einfamilienhäuser, welche heutzutage oftmals zu größeren Wohnblöcken fusioniert sind, haben etliche Gärten und Balkone, die allesamt grün und lebendig sind. Wenn man sich nichts leisten kann, muss man selbst anbauen, und die Ostberliner sind darin wieder ziemlich gut. Kartoffeln sind der Hit. Einfach zu pflanzen, ganz gute ernte und sie machen Satt. Fast jeder hat ein oder zwei Gemüsesorten angebaut, und man tauscht untereinander, aber fast jeder hat auch Kartoffeln, einfach, um satt zu werden.
Das Wasser ist weniger ein Problem als noch vor einigen Jahren. Der Rückgang der Industrie durch Sabotage, Besetzung, Diebstahl und Vertreibung hat gerade im Osten für erfrischend gute Luft und recht klares Wasser gesorgt. Regen wird aufgefangen und zum Bewässern genutzt. Wer das Glück hat an der Spree oder in deren Nähe oder Ablegern zu leben, kann sich da ebenfalls Wasser holen. In einigen Häusern funktionieren sogar die Wasserleitungen. Das Wasserwerk Friedrichshagen wurde im Großen und ganzen in Ruhe gelassen, weil selbst die Anarchisten eingesehen haben, dass man Frischwasser braucht. Betrieben wird es derzeit aus einer Mischung aus Konzernern und freiwilligen Ostberliner Bürgern. Es ist eine Art Gemeinschaftsprojekt, weil keine Seite so richtig nachgeben und auf das Wasserwerk verzichten wollte.
Die Straßen in allen Ostbezirken sind zumeist eng und vollgestellt. Nicht nur stehen hier alte Wracks am Straßenrand, sondern auch Wellblech-Erweiterungen der Häuser, Rollende Läden, Kleinstgärten oder Gang-Aufpasser. Das, was von den Straßen noch bleibt, ist wenig gepflegt und in kritischem Zustand. Ein paar Hauptverkehrsstraßen bilden die Ausnahme. Dort, wo die Berlin AG ihre Öffis lang schickt, sind die Straßen vielleicht nicht schön, aber zumindest doch befahrbar. Ein eigenes Auto ist ein Luxus, den sich nur die wenigsten leisten. Zum Einen, weil man damit ohnehin kaum durch die Stadt kommt, zum Anderen, weil es eben ein Luxus ist, den sich nur wenige leisten können. Andere Dinge haben einfach Vorrang. Dinge wie ein dichtes Dach, Kleidung oder Essen. Reich ist hier eigentlich niemand. Man überlebt im Grunde nur.
Berlin Köppenick, Müggelturm
Inmitten eines Waldes, auf dem Müggelberg im Ortsteil Treptow-Köpenick steht ein alter Aussichtsturm, der einst dazu diente, den Besuchern einen Blick über den angrenzenden Wald zu geben. Mit nahezu 30 Metern Höhe ist die Aussicht auch nicht zu verachten.
Am Fuße des Müggelturms befindet sich ein Komplex, der einmal eine Location für Veranstaltungen, ein Restaurant, einen Pool und eine Sonnenterasse beinhaltet hat. Mit der Anarchie fehlten nicht nur die Gäste, auch wurde das Gelände mehr und mehr sich selbst Überlassen. Bis eines Tages eine Gruppe von Hausbesetzern eine neue Bleibe suchte, und sich dieses Großprojekt zu Eigen machte.
Der Turm ist ziemlich baufällig, ein Betreten geschieht auf eigene Gefahr.
Der Pool ist natürlich längst nicht mehr als solcher nutzbar, was aber nicht schlimm ist. Als Beet eignet er sich ohnehin viel besser. Neben den obligatorischen Kartoffeln gibt es hier auch eine für Berliner Verhältnisse große Auswahl an anderem Gemüse. Sonnenlicht dringt durch die großen offenen Wände (die wohl einmal Fenster beinhaltet haben). Ein paar Spiegel helfen zusätzlich. Der einzige Nachteil ist die Bewässerung von Hand, selbst wenn es regnet. Damals beim Bau des Pools hat offenbar niemand daran gedacht, daraus einmal ein Gewächshaus zu machen.
Das Restaurant ist nun der große Versammlungsraum der WG, in welchem ein selbst gebauter Kicker steht, ein Trid-Projektor für die regelmäßigen Stadtliga-Sportarten sowie eine große Sitzecke mit Restmöbeln, welche mal hier mal dort aufgefunden wurden. Schön ist anders, aber es ist irgendwie gemütlich.
Die Heizung funktioniert üblicherweise nicht, aber immerhin die Wasserzufuhr ist relativ regelmäßig. Man hat einen Vertrag mit den Zivilisten im Wasserwerk Friedrichshagen. Wasser gegen Gemüse. Man muss nur wissen, was man anbieten kann. Toiletten und Duschen funktionieren im Allgemeinen. Um die Wärme kümmern sich ein paar Feuertonnen in gesondert abgesicherten Bereichen des Gebäudes. Abgesichert bedeutet: Brandschutzplatten an der Decke und ein Abzug für den Rauch.
Stromleitungen existieren, aber da niemand Miete zahlt, muss man sich monatsweise um einen Deal kümmern, damit aus den Leitungen auch tatsächlich Strom fließt. Ein paar altersschwache Solarplatten auf der Sonnenterasse versorgen zumindest die Komms recht zuverlässig mit Strom. An guten Tagen kann man auch mal eine der Autobatterien laden, welche als Stromspeicher genutzt werden.
Es gibt einige große Räume, welche in Eigenarbeit in mehre Einzelzimmer für die Bewohner umgestaltet wurden. Die meisten schlafen auf Matratzen am Boden, aber das stört im Grunde auch niemanden. Einen Lattenrost kennen ohnehin die wenigsten.