Berlin in den 2078gern.
Es ist viel geschehen in den letzten Jahren.
Nach der Wiedervereinigung war Berlin von 1990 bis 2023 die Hauptstadt der Bundesrepublik Deutschland, bis Regierung und Parlament um den ausufernden Ausschreitungen und täglichen gewalttätigen Demonstrationen zu entkommen nach Hannover umzogen. Während der Eurokriege stoßen 2031 die Panzerkeile der russischen Invasoren entgegen den Erwartungen nicht auf Berlin vor, sondern umgehen die Stadt im Norden. Während Brandenburg zum Schlachtfeld wird, bleibt Berlin vom Krieg verschont. Als 2033 islamistische Fanatiker während des Großen Dschihads auch in Berlin zum heiligen Krieg aufrufen, brechen erneut Unruhen in der Stadt aus, und Kreuzberg wird zum Emirat ausgerufen, das allerdings nicht all zu lange Bestand hatte.
Im Jahre 2039 löste die Nacht des Zorns und der überraschend einige Widerstand der Meta-freundlichen, anarchistischen und linken Gruppen stadtweite Unruhen aus, die in der Vernichtung der Berliner Sektion des Humanis-Policlubs mündeten, der Jahre brauchte, um eine neue Niederlassung in der Stadt aufzubauen. In der Folge hielten die Unruhen allerdings an, und mündeten zusammen mit einer Studentenrevolte an der Freien Universität, die sich gegen die - nach Meinung der Studenten - unfairen Prüfungszulassungsbestimmungen richtete, in einen kleinen Bürgerkrieg. Schließlich übernahm eine Koalition aus Neo-Anarchisten, Anarchosyndikalisten und Trotzkisten die Kontrolle über die Stadt, als die Regierung kapitulierte, und rief Berlin zum "Größten Experiment in der Anarchistischen Geschichte" aus. Das sog. "Letzte Gesetz" wurde am 7. März 2039 verkündet, was dem nahezu 40-Jährigen Verfall ein Ende setzte, und der Berliner Rat, der künftig nur als reine Diskussionsplattform ohne jegliche legislative oder exekutive Befugnis zu dienen hatte, blieb das einzige politische Organ im anarchistischen Berlin. Da es gemäß des "Letzten Gesetzes" ausdrücklich verboten war, allgemein gültige Gesetze zu erlassen, mußte jeder, der sich in seinen Rechten verletzt fühlte oder glaubte, Opfer eines Verbrechens geworden zu sein, selbst für Gerechtigkeit sorgen oder jemanden anheuern, damit der Selbstjustitz übte. Um diese Art von Dienstleistungen effektiver erbringen zu können, bildeten die arbeitslosen Polizisten Selbstjustiz Trupps (SJTs) oder wurden professionelle Leibwächter zum Anheuern. Für seine Sicherheit war jeder mit seinen jeweiligen Chummern und Verbündeten ausschließlich selbst verantwortlich, und niemand kümmerte sich darum, Dinge wie allgemeine Schulpflicht, Jugendschutz oder Gleichbehandlungsgrundsätze durchzusetzen. Für das Machtgefüge innerhalb der Anarchie wurde der Begriff des "Status F" (Status Fluxus, abgeleitet von fließend, ständig in Bewegung) geprägt, da speziell den Anarchisten daran gelegen war, dass sich sämtliche wechselseitigen Beziehungen in permanenter Veränderung befanden, so dass keine neuen Machtstrukturen im Sinne eines Status Quo zementiert werden konnten. Jeder, der den Eindruck erweckte, soetwas wie eine stabile Machtbasis aufzubauen, galt automatisch als "Bedrohung des Status Fluxus" (kurz: BFS) und hatte alle anderen Parteien gegen sich. Die sich ständig ändernden wechselseitigen Beziehungen von Policlubs, Syndikaten, Sekten, Kulte, Gangs und Konzernen funktionierten so auf eine chaotische Weise, wobei die Dienste der Informanten und Vermittler unerlässlich für jeden waren, der innerhalb des Status F irgend etwas erreichen wollte.
Da allerdings die Absolute Freiheit der Anarchie aber dem Einzelnen auch eine erhebliche soziale und Eigenverantwortung abverlangte, und nicht wenige das Fehlen von feststehenden Gesetzen mit "alles ist erlaubt" verwechselten, war das anarchistische Paradies in der Praxis so paradisisch nicht: So brachte der Status F eine Menge teils (meta)menschenverachtende Auswüchse hervor, gegen die die verschiedenen Fraktionen innerhalb des im Fluß befindlichen Machtgefüges bestenfalls sporadisch vorgingen. "Sportveranstaltungen" wie der berüchtigte «Berliner Zehnkampf», bei denen regelmäßig fast alle Teilnehmer ums Leben kamen, "Freakshows" im Nachmittags-Trid-Programm, bei denen die Selbstdarsteller Leben und Gesundheit riskierten, der große Schattenmarkt oder kanibalistische Restaurants - es gab in Berlin kaum etwas, was es nicht gab... Auch Gangs, die ihren Rassismus hemmungslos auslebten wie die pseudo-christlichen «Kreuzritter» auf der einen und die «Horde» der Orks und Trolle auf der anderen Seite feierten in Berlin fröhlich Urstädt.
Der Zustand der Anarchie hatte in Berlin in dieser Form bis 2055 Bestand. Eine anarchosyndikalistische Gruppe namens „Liberty of Body and Soul" (LBS) hatte ein Bündniss mit anti-anarchistischen Gruppen gegründet und bereitete sich auf den Kampf vor. Bevor der Konflikt allerdings ausbrach, rückten Kampfgruppen der Großkonzerne (mit politischer Rückendeckung des Bundesrates) in einer generalstabsmäßig geplanten und durchgeführten Militäraktion in die Stadt ein. Die LBS und ihre Verbündeten wurden dabei nahezu vollständig aufgerieben. Die Anarchos, die den logistisch und militärisch überlegenen Konzerntruppen einen erbitterten Abwehrkampf lieferten, aber ihren Widerstand nicht wirklich effektiv koordinieren konnten, wurden in den Ostteil zurückgedrängt und dort in dem kleinen Stück von Berlin, das sie mit Mühe halten konnten, letztlich eingemauert.
2060 kam es letztlich zu einer Art von angespanntem Frieden - oder eher: Waffenstillstand zwischen anarchistischem und Konzern-Berlin. Nach der Zerschlagung von Schattenland Frankfurt zog der wichtigste deutsche Shadowland-Knoten in den anarchistischen Osten Berlins um, wobei eine Crew aus dortigen Anarchisten vom bisherigen Sysop Tell das Ruder übernahm: Antifa, Anne Archiste, Dator und Roter Korsar sowie Corpshark, der zusammen mit Konwacht aus Frankfurt gekommen war. Auch die Otaku unter Führung Mnemosynes, die 2061 die «Operation Erntedank» überstanden hatten, siedelten sich dort an.
2061 gab es auch das heute legendäre, von MCT-Media gemeinsam mit der DeMeKo gesponserte Benefiz-Konzert "Ragnarock" für die "Opfer der Anarchie" und den Wiederaufbau Berlins.
Obwohl inzwischen "geduldete" Grenzübergänge - sowohl nach Brandenburg als auch ins westliche Konzern-Berlin - existieren, können sich die Anarchisten im Osten aber auch weiterhin nie sicher fühlen. Das zeigte sich zum Beispiel auch wieder im Dezember 2064 in den Nachwehen des Crash 2.0, als das BIS - unter dem Vorwand, das von Winternight angerichtete Massaker an den Ostberliner Otaku zu untersuchen - den dortigen Shadowland-Knoten aushob.
Nach einem schweren Attentat der Sprawlguerilla am 14. April 2072, das für die Konzerne (denen die verbliebenen Anarchozonen als Rückzugsraum anarchistischer, linker und generell gegen die Kons gerichteter Terroristen ohnehin ein Dorn im Auge war) das Fass zum Überlaufen brachte, erfolgte die Operation «Just Cause». Diese Erstürmung des anarchistischen Ostens forderte dank umsichtigen Vorgehens der Konzerntruppen verhältnismäßig wenige Opfer, und beendete zugleich den Status Quo der geteilten Stadt.
Nach der Befreiung der Ostsektoren wurde der Berliner Vertrag mit der ADL von 2055 grundlegend überarbeitet und neu geregelt. Im Verlauf dieser einschneidenden Umgestaltung wurde auch Königs Wusterhausen an Brandenburg zurückgegeben, während andere, zu vor brandenburgische Teile des Berliner Umlands eingemeindet wurden. Die Zahl der Berliner Bezirke reduzierte sich im Rahmen einer Neu-Ziehung der Bezirksgrenzen auf 21. Der Konzernrat wurde als "Berliner Rat" in ein rechtsstaatliches Gremium aus Bezirksvertretern umgewandelt, während die Verwaltung der Stadt die Aufgabe der Berlin Verwaltungs AG (BERVAG) ist.
Darüber hinaus betreibt BERVAG auch das lokale Gitter, wobei die technische Bereitstellung durch Aetherlink geleistet wird. Die Gestaltung des Grids übernimmt MSI (Vision Berlin).
Die Bezirksautonomie bzw. -autokratie stellt einen Kern der neuen Ordnung Berlins dar. So sitzen im neuen "Berliner Rat" Vertreter der exterritorialen Konzernbezirke nominell gleichberechtigt neben den demokratisch gewählten Bezirksvertretern der Freien Bezirke und den Vertretern der alternativen Bezirke, deren Regierungsformen von anarchistisch über kommunistisch bis meritokratisch reichen.