Vor einem Jahr
An einem der ersten freundlichen Frühlingstage in Seattle wärmten die Sonnenstrahlen den Asphalt der sich kreuzenden Landebahnen des Sea-Tac und beschienen die Landschaft in einem angenehmen Goldgelb. Am Rand des gewaltigen Rollfeldes, weit entfernt von den überschallschnellen Suborbitalmaschinen des stets geschäftigen Aerospaceports, bremste ein rauchgrau lackiertes Airbus-Frachtflugzeug vor einer kleinen Hangarhalle behäbig bis zum Stillstand. Während die Rotorblätter der beiden kraftvollen Triebwerke ausliefen, senkte sich die Heckrampe hydraulisch ab und kam mit metallischem Schaben auf dem ausgebleichten Pistenbelag zur Ruhe.
Lysander Raven ging langsam die Rampe hinunter. Eine leichte Brise wehte vom Puget Sound über den Sea-Tac hinweg. Die frische Meeresluft fuhr durch seine nachtschwarzen Haare, die er kurz geschnitten und in einem vage angedeutetem Iroschnitt gestylt trug. Die angesagte amerindianische Businessfrisur brachte seine elfentypisch spitzen Ohren ausgezeichnet zur Geltung. Der angenehme Wind bauschte auch seinen navyblauen, dezent gepanzerten Mantel von Vashon-Island. Die Farbe des modischen Kleidungsstücks wiederum harmonierte mit seinen intensiv tiefseeblauen Augen. Für einen Moment stand er einfach nur da und ließ die beeindruckende Skyline der Downtown des Metroplexes auf sich wirken. Dann trat der hochgewachsene Elf mit einem entschiedenen Schritt aus dem Schatten der über ihm aufragenden Frachtmaschine auf den Asphalt der Landebahn und in den Sonnenschein. Befreit hob Lysander den Blick zum beinahe wolkenlosen tiefblauen Himmel und atmete tief ein. Er hatte Cara’Sir mit seinen unaufhörlichen Intrigen hinter sich gelassen. Endlich! Er war frei zu tun, was er für gut und richtig hielt. Hier in Seattle konnte er das Erbe seines Vaters ehrenhaft weiterführen.
Einen weiteren Moment stand er einfach nur da und genoß den Wind auf seinem ebenmäßigen Gesicht, dessen hohe Wangenknochen Lysanders amerindianische Herkunft nicht verleugnen konnten. Mit überraschend leisen Schritten näherte sich schließlich der Frachtmeister der Schmugglermaschine. Nolan, ein nicht übermäßig großer Troll, der Lysander dennoch um einen Kopf überragte, trug lässig eine Transportkiste aus den Tiefen des Frachtraums. Die polierten Silberkappen auf seinen gebogenen Hörnern reflektierten die Sonnenstrahlen, als er ebenfalls von der Rampe in den Sonnenschein trat. Unwillkürlich strich sich der muskelbepackte Troll mit der freien Hand über das Kinn und seinen blonden Dreitagebart, bevor er den Transportbehälter mit Lysanders Habe ohne merkliche Anstrengung auf dem Asphalt abstellte. Nolan nickte Lysander freundlich zu und wandte sich dann der Lagerhalle zu. Lysander erwiderte das Nicken mit einem dankbaren Lächeln. Er warf dem langsam davongehenden Troll noch einen kurzen Blick zu, bevor er erneut über den gewaltigen Rollfeldbereich blickte, auf dem sich in der näheren Umgebung niemand sonst befand.
Allein würde er nicht viel bewegen können. Dazu benötigte er Hilfe. Wie auf ein Stichwort, schoss unvermittelt ein, in lichtschluckendem nachtschwarz bedrohlich wirkender, Saab Dynamit zwischen einer Lagerhalle und dem Hangar des Frachtflugzeugs hervor, nahm einen weiten Bogen um den Airbus und kam zügig auf ihn zu. Nun, er war auch nicht allein, nicht mehr. Der elegante Sportwagen kam mit quietschenden Reifen vor ihm zu stehen. Eine attraktive Orkin stieg geschmeidig aus. Cleo. Sie legte die rechte Hand lässig auf das polierte Wagendach. Der zugehörige Arm bestand aus matt anthrazitfarbenem Metall. Ihr eng anliegendes Shirt in gleicher Farbe war geschickt gewählt. Auf den ersten Blick konnte man den Cyberarm beinahe übersehen. Cleo war bereits seinem Ruf gefolgt. Und bald würden sich ihnen noch weitere anschließen. Er freute sich darauf.
Tacoma, Seattle, UCAS
Heute
Schwungvoll öffnete Nina Vasquez einen der beiden lederbezogenen Türflügel, die Lysanders Büro vom Empfangsbereich seiner Büroräume in Midway Park trennten und riss ihn damit aus seinen Gedanken. Er trat einen Schritt von der beeindruckenden Glasfront zurück, die die nordwestliche Wand seines großzügig geschnittenen Büroraums bildete. 39 Stockwerke unter ihm strömte der vormittägliche Verkehr über die vielen Fahrbahnen des ausgedehnten Midway Park Circle. Aus dieser Höhe erschienen die Fahrzeuge auf dem ovalen Kreiselsystem, das die Interstate 5 mit den Highways 509 und 516 verband, beinahe gemächlich unterwegs zu sein. Sogar in der etwas diesigen Luft des Frühlingsmorgens konnte er in der Ferne noch den Puget Sound durch die allgegenwärtigen Hochhäuser ausmachen. Wenn sich der leichte Nebel auflöste, würde es ein schöner Tag werden.
Lysander löste seinen Blick von Seattles geschäftiger Skyline und drehte sich zu seiner zierlichen Assistentin um, die, wie stets in ein tadelloses schwarzes Businesskostüm gekleidet, auf den hohen Absätzen der zugehörigen Pumps mit absolut sicheren Schritten auf ihn zukam. Der implantierte Balanceverstärker, für den die brünette Normfrau lange gespart hatte, trug, wie Lysander wusste, natürlich seinen Teil dazu bei. Nina war aztlanischer Abstammung und lebte als Kind mit ihren Eltern in Denver, bis Ghostwalker im Jahr 2061 den aztlanischen Sektor der Front Range Free Zone eroberte. Ihre Mutter kam bei den erbitterten Straßenkämpfen ums Leben und Ninas Vater floh mit ihr nach Seattle und zog sie allein auf. Esteban Vasquez arbeitete auch heute noch als Hafenarbeiter an den Docks in Downtown. Dass er seiner Tochter ermöglichte, auf dem College die Grundlagen für eine Tätigkeit als juristische Assistentin zu erlangen, was das intelligente Mädchen im Übrigen auch völlig mühelos meisterte, nötigte Lysander großen Respekt ab. Leider war es Nina nicht vergönnt, lange in diesem Beruf zu arbeiten. Dass sie sich gegen einen übergriffigen Rechtsanwalt, und Partner der Kanzlei, zur Wehr setzen musste, brachte ihr letztendlich eine Vorstrafe ein, mit der sie keine Anstellung mehr finden konnte. Lysanders Glück. Ihn interessierten solche Kleinigkeiten schlichtweg nicht. Er konnte hinter die Fassade der meisten Metamenschen sehen, buchstäblich.
Mit einem ansteckenden Lächeln blieb Nina vor Lysanders modernem Schreibtisch aus fein gemasertem Ebenholzimitat stehen. Er lächelte zurück und hob fragend eine Augenbraue.
„Wir haben einen Auftrag“, sagte Nina.