Nach und nach fanden sich die Teammitglieder im, von Nina so getauften, Operationsraum ein. Dabei handelte es sich um ein hallenartiges, quadratisches Areal mit sicherlich mehr als 100 Quadratmetern Fläche, welches sich über zwei Stockwerke erstreckte. Dank beinahe durchgängiger Glasflächen an der Decke war der ganze Raum, trotz einiger hoch über ihnen eingezogener Sonnensegel, lichtdurchflutet. Wenn man nach oben sah, wurde offensichtlich, dass die Halle in den Innenhof eines fünfstöckigen Wohnblocks eingefügt worden war. Obwohl von der vorherigen Nutzung nur noch spärliche Einrichtungsreste vorhanden waren, konnte man doch erkennen, dass sich hier einmal die Ausstellungshalle eines Autohändlers befunden hatte. Ihnen gegenüber durchbrach ein breiter Vorraum, dessen Wände auf beiden Seiten nur aus bodentiefen Fensterflächen bestanden, den umschließenden Häuserblock. Der Raum, der früher als Foyer gedient haben musste, eröffnete den Blick auf eine unbelebte Seitenstraße der 119th Avenue North East. Auch in ihm befanden sich nur noch Reste der ursprünglichen Möblierung, sowie Lysanders rassiger Saab Dyamit. Der nachtschwarze Sportwagen war offenbar durch verschiebbare Türelemente in der Glasfront des Foyers hereingefahren worden.
An der geöffneten Fahrertür des Saab Dynamit stand Lysander Raven. In einem royalblauen Anzug von Vashon Island über einem schneeweißen T-Shirt wie immer ausgezeichnet gekleidet, schien der hochgewachsene Elf ein ernstes Kommgespräch in seiner AR zu führen, wie sie seiner teils schroffen Gestik und einer sehr angespannten Körperhaltung entnehmen konnten.
In der Mitte der früheren Ausstellungshalle stand, beinahe verloren wirkend, eine Sitzgruppe aus beigefarbenen Sofas und Sesseln, die im Kreis um eine Reihe von Tischen ausgerichtet worden war. Nur ein hochwertiger Holoprojektor war bereits auf einem der Tische abgestellt, ansonsten waren diese noch völlig leer. Colin kümmerte sich gerade um die Einrichtung des Gerätes und tippte konzentriert auf dessen AR-Konsole herum, während Nina mit untergeschlagenen Beinen entspannt auf einem der Sofas auf sie wartete.
Als alle Teammitglieder eingetroffen waren, beendete Lysander schließlich sein Telefonat, trat durch ein halb beiseite geschobenes Türelement in die Halle und kam mit zügigen Schritten auf sie zu. Obwohl er sich gewohnt lässig gab, konnten sie doch einige Sorgenfältchen in seinen Augenwinkeln ausmachen, als er näher herankam. Für einige Augenblicke wichen diese aber einem freudigen Lächeln, als er sich mit eigenen Augen davon überzeugen konnte, dass sie weitgehend ungeschoren davongekommen waren.
„Schön, dass es euch gut geht“, begann Lysander, nachdem er noch einmal tief durchgeatmet hatte, was seine Anspannung sichtlich milderte. „Ohne Umschweife, jemand ist hinter uns her. Kurz bevor ihr auf dem Rückflug angegriffen wurdet, stürmte der Internal Revenue Service mit Knight Errants Hilfe gleichzeitig Raven Manor und Midway Park. Ein sehr unangenehmer Inspection Supervisor McPherson hielt mir einen Durchsuchungsbeschluss unter die Nase, der in Washington, D.C. angeordnet wurde. Es ginge um Wirtschaftsverbrechen, aber mehr wollte er mir nicht sagen.“ Lysander schwieg einen Moment, um sie das Gesagte verarbeiten zu lassen. „Detective Younger von Knight Errant hatte mich von unserer gemeinsamen Schießerei mit den Blood Mountain Boys im Tacoma Charity glücklicherweise in guter Erinnerung und schickte mir eine kleine Vorwarnung.“ Er lächelte grimmig. „Es war knapp, aber Nina konnte mit Hilfe der First Nations Gang, die mir noch einen Gefallen schuldete, vieles von unserer Ausrüstung hierher in Sicherheit bringen.“
„Leider war das noch nicht alles“, fuhr Lysander dann mit ernstem Gesichtsausdruck fort und verschob in der AR eine Videoaufnahme an den Projektor, der sich ohne Verzögerung aktivierte und über der Tischplatte das Hologramm eines in der Nacht aufgenommenen Trideos aufbaute. Nach Colins Justierung des Kontrasts wurde die Aufnahme auch in der sonnigen Ausstellungshalle detailreich und hochauflösend dargestellt. „Vor drei Tagen wurde Assistant District Attorney Thomas Reeves vor der Einfahrt seines Hauses in Bellevue erschossen. Als Knight Errant die nur stümperhaft gelöschten Aufnahmen seines Überwachungssystems forensisch wiederherstellte, fanden sie das hier.“ Mit einem Fingerzeig spielte Lysander das Video ab.
Die Restlichtverstärkung der Sicherheitskamera, die scheinbar über der Haustür angebracht war, zeigte die Ankunft eines behördentypischen GMC Commodore, aus dem ein menschlicher Mann ausstieg, dessen kostspieliger Anzug deutlich zerknittert wirkte. Sein Alter schätzten sie angesichts leicht ergrauter Schläfen auf Anfang Vierzig. Für einen Moment blieb der Mann in der unbeleuchteten Einfahrt stehen, dann drehte er sich abrupt um. Kaum eine Sekunde später kam eine kleine, nachtschwarz gekleidete Gestalt, deren Umrisse auf eine schlanke Frau schließen ließen, mit einer kompakten Schnellfeuerwaffe im Anschlag hinter dem Heck des geparkten Wagens hervor. Einen Wimpernschlag später wurde die Sicherheitskamera teilweise vom Mündungsfeuer der Schnellfeuerwaffe geblendet, die sie als extrem modifizierte Ares Stalwart identifizieren konnten, als die Kamera sich sofort wieder kalibrierte. Eine Salve offenbar panzerbrechender Geschosse durchschlug den Oberkörper des Mannes und schleuderte ihn rücklings zu Boden, wo er leblos liegenblieb. Lysander stoppte die Aufnahme und zoomte auf das Gesicht der Mörderin. Es war Betsy.
„Aber, aber... ich“, stammelte sie, „Ich war das nicht.“ Sie blickte Lysander aus schockgeweiteten Augen an. „Ich weiß“, erwiderte er sanft. „Schau genauer hin, Elisabeth.“ Seine gelassene Reaktion verhalf Betsy dazu die völlig zersplitterte Fassade ihrer Fassung, die durch die traumatisierenden Ereignisse des Tages sowieso schon angeschlagen gewesen war, wiederherzustellen. Mit eiserner Willensanstrengung beruhigte sie das Rasen ihres Herzens und verlangsamte ihre Atmung, während sie sich auf die hochaufgelöste Darstellung des Hologramms konzentrierte. „Es ist nicht meine Waffe“, sagte sie schließlich erleichtert. „Die Details stimmen nicht ganz.“ Lysander nickte. „Richtig. Da du Bilder deines neu erworbenen Superkompaktkarabiners in unserer Waffendatenbank hinterlegt hattest, konnte ich das auch schon verifizieren. Außerdem“, Lysander trat näher an das Hologramm heran und deutete mit dem Finger auf eine Stelle unter dem rechten Ohr von Betsys Abbild, „ist die Datenbuchse an der falschen Stelle. Ich denke, wir haben es mit einem Illusionsmagier zu tun.“ Vielsagend hob er eine Augenbraue. „Aber vorher wusste er, wie meine Stalwart aussieht? Ich habe sie im Einsatz noch nie benutzt“, fragte Betsy nachdenklich.