Kalter Herbstwind und stetig fallender Novemberregen hielten Seattle schon seit Tagen fest im Griff. Nur wenige Menschen gingen noch, wenn nicht absolut nötig, außer Haus. Das Wasser stand teilweise zentimeterhoch auf den Straßen und vorbeifahrende Autos warfen Kaskaden aus Regenwasser in die Luft und auf Fußgänger, die verzweifelt mit dem Wind um ihre Regenschirme rangen. Es war Samstag, die Arbeitswoche neigte sich dem Ende zu. Wenn man denn Arbeit hatte.
Die letzten Tage waren für die meisten Shadowrunner Seattles ungewohnt ruhig gewesen. Man hatte die News über den ein oder anderen Kontakt mitbekommen, dass in letzter Zeit übermäßig viele Runner, sogar ganze Teams, einfach so auf ihren Missionen verschwanden. Vielleicht war sogar der ein oder andere dabei, mit dem man einst zusammengearbeitet hattet. Gerüchte, jemand würde Jagd auf Shadowrunner machen, lagen in der Luft. Wie dem auch sei, das wirkte sich auf die Auftragslage aus. Nicht, dass auf einmal weniger Bedarf für Schattenarbeit bestand. Es war vielmehr so, dass die meisten Fixer es sich mittlerweile zweimal überlegten, ein Team zusammenzustellen und auf Raubzug, Einbruchstour oder dergleichen zu schicken.
Erst gestern hatte eine schockierende Nachricht die Runde gemacht. Luna, Lurker und Hayato, ein ikonisches Runnerteam aus Deckerin, Adepten-Scharfschützen und Nahkampf-Cyborg, war von einem einfachen Routinerun nicht zurückgekehrt. Die Dreie hatten es im Verlauf der letzten Jahre in der hiesigen Runner-Szene zu Berühmtheit gebracht, indem sie große Teile ihrer Verdienste benutzten, um kleinere, neue Runner auszustatten und zu unterrichten.
Kurz nach Mittagszeit klingelte die Türe zu Dolls Wohnung. Eine Gegensprechanlage war nicht eingebaut und der Türspion zeigte niemanden. Sollte Doll ihre Wohnungstüre öffnen, so fand sie eine kleine braune Kunststofftüte vor. In dieser Tüte befanden sich ein paar Schokoriegel, etwas Tiefkühlkost, drei kleine Flaschen Limonade – Limesation Light, Volle Energie, halber Zucker, doppelter Zitronengeschmack!! – und eine kleine Notitz in krakeliger Handschrift:„Hey Kleene, hoffe du kommst gut in deiner Bude klar. Hab heute Abend einen Job für dich. Im ‚Shadowden‘ um 22:00 gibt’s weitere Details. Alles Liebe, viel Erfolg, lass es dir schmecken und pass auf dich auf – Jays0n“ Jays0n war der Schieber Dolls. Sie kannten sich schon eine Weile und hatten ein gesundes Verhältnis zueinander. Manchmal war er ein wenig über-aufmerksam wenn es um die kleine Doll ging, was jedoch von einem guten Herzen und jahrelanger Balance zwischen Schattenläufer und Familienvater kam. Von seinem Kleinen erzählte er gerne, er war auch der Grund warum Jays0n mittlerweile mehr als Schieber arbeitete und weniger im „aktiven Dienst“.
Der Seattler Regen konnte Duke hier, in dem netten Café, in dem er saß, nichts anhaben. Das triste Grau des Unwetters war hinter die Fenster des Ladens verbannt, drinnen war es angenehm geheizt. Christian saß dem Duke gegenüber und nippte an seinem 16 Uhr Earl Grey mit viel zu viel Kandiszucker, bevor er weiterredete: „Hör mal, ich habe da etwas für dich.“, erläutert er mit samtweicher Stimme. „Ein Freund von mir ist in eine missgünstige Lage geraten und es bedarf ihm an Personal. Ich war so frei ihm ein wenig von dir zu empfehlen und dieser Gentleman hegt nun Interesse an deiner Bekanntschaft.“ Er hielt kurz inne um ein Stück von seiner Apfel-Sahne-Torte zu naschen, dann fuhr Christian fort: „Der gute Herr verwendet den einfachen Namen „Perry“ und erwartet dich heute Abend gegen Zehn Uhr im Shadow Den im Seattler Hafenbereich. Eine nicht allzu noble Lokalität, in der die Jugend sich allabendlich Zerstreuung sucht. Dennoch ist sie für unsereiner einen Besuch wert, finden sich doch traditionell auch einige Gleichgesinnte dort ein. Es würde mir viel bedeuten, wenn du dich seiner annimmst und dir zumindest anhörst, was der gute Perry zu sagen hat.“ Dann leerte er seine Teetasse und legte die Kuchengabel auf den Teller. Duke konnte unschwer erkennen, dass nun alles gesagt war.
Als Scotty morgens (oder mittags, wann auch immer) aufgestanden war hatte sie eine Nachricht auf dem Comlink gehabt. AmyRin schilderte ihr, wortkarg wie immer, dass sie Arbeit für Scotty hatte. „Arbeit. 2200. ‚Shadow Den‘ Johnson Vertrauenswürdig“ Eine Antwort von Scottys Seite aus scheint wohl nicht nötig zu sein.
Spike stand vor seinem Wohnwagenbüro und grinste stolz als er Psyco gegen Mittag seinen neusten Schatz präsentierte. „‘68er Ford Mustang. Also 1968! Ist zwar schon ziemlich am Arsch…“ Und das war nicht untertrieben. Die Karosse des Autos war mehr ein einziger Klumpen Rost als alles andere. Dennoch konnte man die einst sportliche Form des Muscle Cars aus dem zwanzigsten Jahrhundert erahnen. Wenn man sich auskannte. Und viel Fantasie hatte. Sehr viel. „…aber den bekomm ich wieder fit.“ Zufrieden nickte der Ork und man konnte Vorfreude in seinen Augen erkennen. „Aber jetzt mal etwas anderes. Ein Freund von mir, Perry, sucht ein paar Leute für ´nen Job. Könnte bestimmt auch ´nen fähigen Fahrer gebrauchen. Heute Abend gegen Zehn im ‚Shadow Den‘. Schau’s dir mal an.“
Gegen 15 Uhr klingelt der Comlink Namraels nur kurz. Eine Nachricht von Anthony. "Hey Nam," - Er experimentierte in letzter Zeit mit Spitznamen für seine Runner - "Ich hab 'nen Job für dich. Ist für 'nen Kollegen von mir, Perry. Heute Abend, 22 Uhr im Shadow Den. Er erwartet dich. Lass mich nicht schlecht aussehen. Gr, Anthony." Typisch für Anthony. Hatte für Namrael wahrscheinlich schon zugesagt ohne sie zu fragen. Scheinbar nahm er sie in den letzten Tagen ein wenig auf die Probe.
Bis 22 Uhr war es noch eine Weile, sodass jeder der Angesprochenen noch ein wenig Zeit hatte, Vorbereitungen zu treffen, Erkundungen anzustellen oder sich die Zeit sonstwie zu vertreiben.