Erst einmal danke fuer den wirklich hoeflichen Umgang
Ich glaube, Garuda hat mit der Frage, was denn bedeutende Erkenntnisse seien, den Nagel auf den Kopf getroffen. Und genauso wie Garuda wuerde ich sehen, dass das, was wir als "aufgeklaerte Gesellschaft" bezeichnen, sich nur so in Folge der naturwissenschaftlichen Methodik entwickeln konnte. Was ich auf jeden Fall als Fortschritt empfinde gegenueber den religioesen Ueberzeugungen frueherer Gesellschaftsformen, aber eben nicht als das Ende der Fahnenstange.
Serrax erklaert gar, dass die Geisteswissenschaften den Naturwissenschaften seit Jahrzehnten hinterherhaengen. Da frag ich mich aber schon, anhand welchen Kriteriums Du diese Wertung fest machst. Ich wuerde das auf keinen Fall so sehen, gehe aber mal die am meisten vorgetragene Sorge an:
Es wird von allen Wissenschaften heute verlangt, dass sie zu ueberpruefbaren Ergebnissen kommen. Dies fordern selbst die Positivist_Innen in der Soziologie, und ja klar, es funktioniert. Wenn wir uns ein Statdviertel anschauen wollen, in dem eine hohe Kriminalitaetsrate herrscht, und wir mit Modellen von Bildungsinvestition hier oder verstaertke Ueberwachung da rangehen, koennen wir nach ein paar Jahren evtl. eine Verringerung der Kriminalitaetsrate feststellen (unter bestimmten Bedingungen blabla...). Das ist ja auch schon mal eine praktische Sache (wenn sie tatsaechlich funktionieren wuerde, was aber aufgrund einiger Problematiken nicht der Fall ist).
Ich bezweifele jedoch, dass diese augenscheinliche "Wahrhaftigkeit" und "Genauigkeit" der naturwissenschaftlichen Methode sinnvoll fuer die Uebertragung auf eine Gesellschaft ist. Durch diese koennen wir naemlich nur die innere Konstruktion erkennen, aber nicht die Konstruktion des Rahmens, unter dessen Fittiche wir uns bewegen. Dazu gleich mehr.
"Serrax" schrieb:
Es ist vollkommen klar, daß die Naturwissenschaften nur "Modelle" der Realität abbilden.
Hmm, so klar ist das vielen nicht. Um es nochmal mit Ortlieb zu sagen (der in dem Moment viel naeher an Foucault als an Adorno ist):
"Claus Peter Ortlieb" schrieb:
Deren Vermittlung ihrer mathematischen Konstruktionen mit der Wirklichkeit besteht im Experiment und einer der größten anzunehmenden wissenschaftlichen und wissenschaftshistorischen Irrtümer darin, dieses mit der schlichten Beobachtung gleichzusetzen, wie sie Antike und Mittelalter zur Verfügung stand. Im Experiment wird Realität nicht einfach beobachtet, sondern hergestellt , den idealen mathematischen Konstruktionen zumindest näherungsweise entsprechend.
[Hervorhebung im Original]
Oder, wie Garuda es so schoen gesagt hat: Auch Naturwissenschaften koennen die Welt nur deuten, nicht erklaeren.
Ich wuerde da aber gerne noch ein paar Punkte oben drauf setzen, die so sinngemaess in Adornos "Negativer Dialektik" formuliert werden. Merke: Dies ist ein philosophisches Werk, was auch direkte Aussagekraft auf die NaWi hat, auch wenn das gar nicht das Ziel war.
Ich hole ein bisschen aus (oh Wunder). Der Abschnitt ist vielleicht 2mal zu lesen; ich hab den selber noch nie ausformuliert:
Wir Menschen denken in Abstraktionen. Um uns etwas begreiflich zu machen, versuchen wir es zunaechst, mit Worten zu fassen, bis wir einen Begriff davon haben. Wenn wir uns ueber etwas unterhalten - oder es auch nur denken - dann sind wir irgendwann der Meinung, das Bezeichnete erfasst zu haben, es identifiziert zu haben. Wir haben eine ganz gute Vorstellung davon,was es ist. Aber: In seiner Gesamtheit werden wir es nie erfassen koennen, weil jedes Bezeichnete etwas Individuelles hat, von dem wir abstrahieren muessen, um es uns begreifbar zu machen.
Um zu Denken, muessen wir diese Abstraktionen durchmachen. "Denken heisst identifizieren" (Adorno). Diese Identifikation alleine ist aber ein Trugschluss, weil es das qualitativ Eigene des Bezeichneten ausschliesst. Adorno versucht mit Mitteln der Dialektik, die Scheinhaftigkeit von Identitaet und Identifiziertem aufzuzeigen, um dem "Nicht-Identischen" weiterhin Raum geben zu koennen. So soll sich dem Begriffenem ex negativo genaehert werden, also: was es nicht ist; und zugleich soll die Beziehung zwischen Beobachtenden und Begriffenem aufgezeigt werden.
(Ich hoffe, bis hierhin sind alle mitgekommen)
Das Konzept der Identitaet ist jedoch fuer die Naturwissenschaft extrem wichtig; ihre groesste Auspraegung hat sie dann in der Philosophie des Deutschen Idealismus gefunden. Diese Identitaetslogik findet sich jedoch in der gesamten Verfassheit unserer Gesellschaft. (Vorsicht, Marx´sche Argumentation:) Wir produzieren diverse Dingen in unserer Gesellschaft. Um diese austauschbar zu machen, abstrahieren wir von ihrer qualitativen Eigenheit, um es in ihre Wertform zu bringen (Bsp.: 1kg Brot = 50ct). Dieser Wert ist aber nichts natuerlich gegebenes, sondern wird erst durch unsere individuelle Verfasstheit in den gesellschaftlichen Verhaeltnissen betrieben, in denen es als selbstverstaendlich angesehen wird, das alle Dinge irgendeinen Wert haben (und nicht nur einen objektiv begruendbaren Nutzen). Diese Konstruktion fuehrt eben auch dazu, dass die Arbeitskraft von menschen als ausshlaggebend dafuer genommen wird, wieviel ein Mensch zum Leben bekommt. Auch dies vernachlaessigt jede Art von qualitativen Eigenheiten des Menschen.
Natuerlich macht es fuer die Chemie als solche recht wenig Sinn zu sagen: Ich werde mir jetzt jedes Atom einzeln angucken. Darum geht es auch nicht. Aber am Beispiele Gender und Biologie kann ich das Problem vllt. besser erlaeutern:
"Serrax" schrieb:
Die Schwellenwerte sind oft eben nicht willkürlich gewählt.
Achtung, spitze Frage: Wenn Schwellenwerte nicht willkuerlich gewaehlt werden, nach welchen Massstaeben denn dann?
Vermutlich nach ihrer Haeufigkeit. Aber warum wird denn gerade die als entscheidend angesehen, was "normal" ist und was nicht? Das Kozept acuh dahinter steckt in der Identitaetslogik, die versucht, alle Menschen ueber einen Kamm zu scheren, und dabei keine Ruecksicht auf die qulaitativen Besonderheiten der einzelnen Individuen macht. Und sich damit unabhaengig von der Frage stellt, ob Menschen dann als Mutant_Innen diskriminiert werden. Verdammte imgainierte Relevanz von Statistik!
"Serrax" schrieb:
XX oder XY ist beim Menschen normal, weil es die extrem häufigste und erfolgreichste Konstruktion ist. Je mehr X oder Y Chromosomen dazu kommen, desto negativer sind die Folgen.
Negative Folgen? Welche? Evtl. keine Kinder zu zeugen? Das ist aber schon wieder eine sehr voreingenommene Weltsicht, was als negativ und was als positiv zu sehen ist.
Geringere Lebensdauer? Geringeres Lustempfinden? Quatsch, widerlegt.
Der einzige Grund, dass dies als negativ wahrgenommen wird, liegt in der vorherrschenden Zwei-Geschlechter-Ideologie. Dass da mehr x- oder mehr y-Chromosmen nicht reinpassen, macht das Ganze erst zu einem Trauma fuer die Betroffenen. Das hat aber nix mit der "biologischen Notwendigkeit" zu tun, sondern ist Folge der vorherrschenden "Heteronormativitaet" (J. Butler).
"Serrax" schrieb:
Es ist ja auch meine Auffassung, daß die meisten wirtschaftlich relevanten geisteswissenschaftliche Erkenntnisse bereits vor der Aufklärung getätigt wurden.
Die meisten Wiwis wuerden sagen, dass die groessten Erfolge sich mit D. Ricardo und A. Smith zum Ende des 18. Jh. (also Ende der Aufklaerung) abgezeichnet haben.
Und ich wuerde sagen, dass das wirtschaftlich relevanteste geiteswissenschaftliche Erkenntnis das 1867 erschienene "Das Kapital" von K. Marx darstellt. Keine andere Schrift hat vorher die immaente Zuschreibung von Wert und Waren im Kapitalismus aufgezeigt, sondern alle sind von einem quasi-natuerlichen Zusammenhang ausgegangen.
Ach so: Wenn ich sage, dass ich den "Traum von der kompletten Vorhersagbarkeit menschlcihen Verhaltens" nciht teilen kann, dann beziehe ich mich eher auf den Begriff des "Traums". Fuer mich klingt das eher nach Alptraum.
Aber zugleich will ich darauf hinaus, dass wir mit unseren bsiherigen Denkmethoden - insbesondere mit dem aus den Naturwissenschaften uebernommenen Positivismus - eben nicht das gesellschaftliche Ganze (das mehr ist als die Summe seiner Teile) analysieren koennen.
Garuda
:
Stolzenberg und der Artikel sagt mir gar nix. Ich habe meine Kenntnisse aber auch aus der Beschaeftigung mit Radikalen Konstruktivismus auf der einen, Kritischen Theorie auf der anderen Seite. Und weil vielzu viele meiner Freund_Innen "echte" NaWis studieren, musste ich mich da oefter mit der "Exaktheit von NaWi ggue. GesWi" auseinander setzen. Das motiviert.
Ciao
Lumac