[IP] Electric Dreams

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Aus dem Gesicht des Balinesen ist nicht abzulesen, ob er die Tatsache, dass Croaker ihn über das Ziel der Reise im Unklaren lässt, als Beleidigung empfindet oder nicht. Wortlos setzt er sich mit seiner Maschine hinter Mius Wagen, nachdem die Gruppe eingestiegen ist und alle nicht lizenzierten Waffen in den Schmuggelfächern des Fahrzeugs versteckt hat. Es wird eine lange Fahrt, so viel hat Croaker mittlerweile verraten - doch wo es hingeht, wissen auch sie nicht.

Obwohl der Regen aufgehört hat, ist der Himmel nicht gänzlich aufgeklart, so als wolle er die Truppe daran erinnern, dass sie noch lange nicht im Trockenen angekommen ist. Nengah hält sich dicht hinter Mius Wagen, um den Anschluss nicht zu verlieren, scheint damit aber keine Probleme zu haben. Auch Sukamo bleibt nichts anderes übrig, als dem Fahrzeug der Gruppe zu folgen.

Nachdem sie wieder auf der Festlandseite angekommen sind, geht der Verkehr trotz Verkehrsleitsystem nur noch schleppend voran. Schließlich liegen die Lagerhallenkomplexe und Dockanlagen Kwun Tongs hinter ihnen und sie umrunden den alten Kai Tak Airport. Ungefähr zu dieser Zeit meldet sich Indra über das Gruppennetzwerk.

>> Der vierte Mann hat die Observation des Gebäudes abgeschlossen und ist wieder mobil. Ich werde ihn verfolgen, sofern es mir möglich ist. <<

Lak schläft, um sich nach der Beschwörung wieder zu erholen, und bekommt von Indras Nachricht nichts mit. Auch Croaker, der nicht Teil des Netzwerkes ist, empfängt die Information nicht.

Der Süden Kowloons läuft an den Sinnen der Runner vorbei, bis schließlich die geschäftige "Golden Mile" in Sicht kommt, welche die Gruppe auf der Schnellstraße überquert, um sich dann in die nördlichen Bereich des Sprawl zu begeben. Es dämmert bereits, als sie damit beginnen, den Ma Wan-Kanal auf der Tsing Ma Bridge zu überqueren. Langsam, aber sicher nähern sie sich Lantau, an deren nördlicher Küste sich die künstlichen Inseln erstrecken, auf denen sich der internationale Konzernflughafen Hong Kongs befindet.

Die letzten Kilometer führen die Runner abseits der Schnell- und Hauptverkehrsstraßen über einen unbetonierten Weg durch das bewaldete Hügelland der Insel, bis schließlich die imposante, hochaufragende Bronzestatue des Tian Tan Buddha, der eindrucksvoll über die ihn umgebenden Tempel- und Klosteranlagen wacht. Dies ist das Land der Mönche und Wujen des Po Lin-Klosters, welches sie dem neu geformten Konzern-Exekutivrat während der Unabhängigkeitswirren Hong Kongs mit klugen Schachzügen abgerungen haben. Doch die Mönche haben es vermieden, Po Lin zu einem beschaulichen und weltabgewandten Ort der inneren Einkehr werden zu lassen, sondern haben ihre Hallen auch weiterhin dem Konzerntourismus und den Bedürfnissen der Megas geöffnet, um ihren Wohlstand und ihre Unabhängigkeit zu erhalten. Ein Status Quo, der von beiden Seiten gewahrt wird.

Dunkelheit senkt sich über Lantau, als die Runner sich den Tempelanlagen nähern, die hier, umgeben und durchwunden vom Wald, zerstreut liegen.

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Ein Zweiergespann in Trachten gekleideter Mönche schält sich aus dem Zwielicht am Rande des Parkplatzes und schreitet in Richtung der Gruppe. Die Blicke der Mönche erscheinen wachsam, fast misstrauisch, doch zeigen die Gesichter der beiden Männer einen höflichen Ausdruck.

"Können wir Ihnen weiterhelfen, Reisende?"

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Niemand außer Croaker weiß, was hier vorgefallen ist. Der Rabenschamane schaut sich um. Irgendwie hat Simon, der die Szenerie eindringlich mustert, den Eindruck, dass sich auch ihr wiedergewonnener Chummer nicht absolut sicher ist. Doch Croaker weiß, wie so meist, seine anfängliche Zerstreutheit rasch zu überspielen. Lak ist die Szene indessen völlig entgangen, ist ihr Blick doch von der gewaltigen Statue des Buddha, an der Spitze der Treppen gelegen, wie gefesselt.

"Der Mönch Chuan... ", beginnt Croaker.

"Er erwartet uns."

Die beiden Mönche wechseln einen kurzen Blick. Sie lächeln, aber das, wie alle wissen, muss nichts bedeuten.

"Um diese Zeit wird er wohl beim Buddha sein", antwortet der eine, während der andere noch hinzufügt: "Dies ist ein Ort des Friedens und des Gebets."

Allen ist klar, was dies bedeutet. Die Mönche werden es sicherlich nicht tolerieren, wenn die Runner - zumindest offensichtlich - Waffen mit auf das Gelände nehmen.

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Man muss kein Meisterdeuter asiatischer Verhaltenskunst sein, um zu erkennen, dass die Mönche wenig geneigt scheinen, den Runnern zu helfen. Erst als Lak sichtief mit dem Wai-Gruß in Richtung der Buddha-Statue verneigt, bricht das Eis soweit, dass sich einer der Mönche bereit erklärt, den Weg zu weisen.

"Bitte... folgt mir."

Der Mann schreitet los, wobei der Begriff 'schreiten' eine ziemlich genaue Bezeichnung für die Art und Weise darstellt, wie der Mönch sich bewegt.

Es dauert einige Zeit, bis sie mehrere Gebäudegruppen passiert haben und schließlich den weiten Treppenaufgang erreichen, der schließlich zur Plattform hinaufführt, auf welcher der Buddha thront.

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Der Buddha, beleuchtet von einem abgedämpften, aber perfekt inszenierten Licht, bietet aus der Nähe betrachtet einen noch imposanteren Eindruck, und dass, obwohl er noch immer von den hochaufragenden Treppen von der Basis, an der sich die Runner befinden, getrennt ist. Der kleine steinerne Platz liegt in der Dunkelheit, in einem Bereich, der vom Lichte des Buddhas nicht berührt wird. Um die steinernen Aufbauten kleinerer Schreine herum schreitet der Mönch Chuan heran. Croaker stoppt, und mit ihm die anderen aus der Gruppe.

"Ich habe dir etwas gegeben, damit du es für mich aufbewahrst", hallt Croakers gedämpfte Stimme unwirklich laut über den Platz.

Der Mönch streckt die Hand aus, sie greift in seine Tracht. Dann erkennen die Runner die Seiten eines Lontarbuches. Schon einmal haben sie ein solches Werk gesehen und können ohne Zweifel sagen, dass dieses hier von derselben Form ist. Der Mönch reicht es Croaker, doch dann geht ein unmerkliches Zucken durch seinen Körper. Croakers Körper spannt sich, dann weiten sich seine Augen. Mit übermenschlicher Geschwindigkeit packt der Mönch mit der anderen, freien Hand Croakers ausgestreckten Arm.

"Samiah... ", keucht er, doch das erschrockene Keuchen geht alsbald in einen bitteren Schrei über.

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Ein seltsames Zischen entrinnt der Kehle des Mönches, den Kopf in Laks Richtung ruckend. Dann packen Mikes schraubstockartige Hände zu, um Croaker freizusetzen, der scheinbar nicht fähig war, klar zu denken, geschweige denn zu handeln. Die Kraft des besessenes Mönches war enorm, und Mike war sich nicht sicher, ob sie sogar seine eigene Stärke noch übertraf. Doch zu einem wirklichen Kräftemässen kam es nicht. Plötzlich erschlafft der Griff des Mönches und Croaker kommt frei. Der Mann sinkt vor dem Rabenschamanen auf die Knie, während Croaker, noch immer nicht Herr seiner Sinne, das Lontarbuch fallen lässt. Zwischen den Palmblättern kommt Papier zum Vorschein... Japanische Schriftzeichen, Briefe.

Doch es bleibt keine Zeit, sich diese nächer anzuschauen, denn plötzlich ist es Croaker, dessen Körper sich verkrampft. Eine seltsame Stimme ertönt aus dem Rabenschamanen, die sowohl Lak als auch den anderen einen Schauer durch den Leib fahren lässt.

"Hört mich. Ich werde diesen Körper erst wieder freigeben, wenn ihr mir zu Diensten gewesen seid."

Nengah, der sich etwas abseits gestellt hat, als Mike aktiv geworden ist, ergreift nun die Initiative. Sein Kris blitzt im Schein des von der Buddha-Plattform kommenden Lichtes auf, als sich der Balinese auf Croaker stürzt.

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Dunkles Blut quillt hervor, als die gewellte Klinge in Croakers Leib dringt. Es ist eine meisterlich geführte Attacke, und obwohl der besessene Körper des Rabenschamanen sich nun wesentlich schneller und geschmeidiger bewegt, als es einem gewöhnlichen Menschen möglich ist, kann er Nengahs Angriff nicht entgehen. Croakers Körper krümmt sich, auch wenn die Macht Samiahs ihn auf den Beinen hält und verhindert, dass er auf den steinernen Platten zusammenbricht. Dann ist Mike zur Stelle. Noch ehe Nengah ein weiteres Mal zustechen kann, hat der Griff des Trolls ihn gepackt. Mike ist fast überrascht, dass der Angriff, obwohl Nengah sich eindeutig auf sein Ziel konzentriert hat, nur mit äußerster Mühe gelingt. Fast schon hat er den Körper des Balinesen wieder aus seinem Haltegriff entkommen sehen, als sich dieser geschickt um die eigene Achse windet und unter dem Troll hinweg zu entkommen versucht. Doch dann greift die Kraft, die auch schon den Mönch bezwungen hat. Und einen Augenblick später befindet sich Nengah in Mikes Umklammerung, aus der es für ihn - zumindest in den nächsten Momenten - kein Entkommen zu geben scheint.

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Es hat nur selten Momente gegeben, in denen Mike eine Drohung hat wahr machen müssen. Zumeist haben seine Worte, gepaart mit einer Demonstration seiner übermenschlichen Kraft, vollkommen ausgereicht. Doch dieser ist ein solcher Moment. Ob Nengah die Besessenheit Croakers als Verrat dessen ansieht, was der Rabenschamane ihm im "Drunken Monkey" berichtet hat, oder ob es vielleicht einfach nur sein Schicksal ist, die Geister dort zu bekämpfen, wo er auf sie trifft, vermag Mike in diesem Moment nicht zu unterscheiden. Doch der Balinese ist flink und wendig, und er setzt alles daran, schnellstmöglich aus Mikes Umklammerung zu entkommen. Noch bevor Mike die Möglichkeit hat, seinen Griff zu verstärken oder seine vorteilhafte Position dazu auszunutzen, den Balinesen auszuknocken, hat Nengah sich befreit. Doch seine Freiheit währt nur kurz.

Simon, der sich etwas abseits gehalten und bisher nicht eingegriffen hat, wird nun aktiv. Die Strapazen aus dem Kampf am Hügegrab sind ihm noch immer deutlich anzusehen. Sein Körper hat gelitten, und er weiß am besten, dass er nicht voll einsatzbereit ist. Doch auch jetzt kann er sich auf seine ruhige Hand verlassen. In dem Moment, in dem die Szenerie zu kippen drohte, hatte er den Taser bereits zwischen seinen Fingern. Einige Herzschläge lang ist er sich unsicher, ob er auf Croaker oder Nengah feuern soll, doch dann wird ihm diese Entscheidung glücklicherweise abgenommen. Zwei rasche Schüsse führen zu zwei Körpertreffern. Noch in der Bewegung, die ihn aus Mikes Griff befreit hat, geht Nengah zu Boden und bricht auf den Steinfliesen zusammen.

Simon hat kein gutes Gefühl. Seine herausragende Intuition hat ihn bisher nur selten im Stich gelassen, und er spürt, dass die Kämpfe noch nicht vorbei sind. Dennoch bleibt er still, obwohl der kurze Blick, den er Mike zuwirft, bereits Bände spricht.

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Croaker steht starr dort, einer Statue gleich, und dass, obwohl ihm das dunkle Blut aus seiner Stichwunde sickert, seine Kleidung tränkt und den Boden des Tempels befleckt.

"Ich fordere euren Dienst. Den deinen und den deiner Gefährten. Aber du hast Recht. Dieser Ort hat bereits genug gelitten, und die Abkömmlinge der Choshu sind nicht fern. Werdet ihr mich an einen anderen Ort begleiten, damit ich euch davon berichten kann, was mir einst geschah?"

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"Nehmt das Lontarbuch ruhig an euch. Es ist ebenso Teil der Geschichte wie ich. Unsere Wege sind miteinander verbunden", verkündet Samiah.