Es regnet immer in Seattle - Kurzgeschichte von mir

  • Servus zusammen. War lang nicht mehr hier. Hab in der Zwischenzeit eine Kurzgeschichte geschrieben und brüte grad über der Nächsten. Jetzt meine Frage: Ist der Stil so in Ordnung? Kann ich so weiter schreiben? Verbesserungsvorschläge?


    Seattle.
    Es regnet, wie sollte es auch anders sein.
    Es regnet immer in Seattle.
    Das steht zwar nicht im Reiseführer, aber alle Einheimischen können das bestätigen. Selbst wenn es nicht regnet wirkt alles so, als ob es jeden Moment wieder anfangen könnte. Die Feuchtigkeit wird man nie richtig los.
    Manchmal tut es ganz gut die Stadt so zu sehen, wie sie wirklich ist. Einfach mal das AR abschalten. An den Profilen der entgegenkommenden kann man erkennen, dass das kaum jemand macht. Man gewöhnt sich viel zu schnell an die computergenerierten Wahrnehmungen; verliert den Kontakt zur Realität.
    Die Hochhäuser hier sind trostlos; Beton und Spiegelscheiben, in denen sich nur der graue, regnende Himmel spiegelt. Früher hat es hier Neonreklamen gegeben, aber seit die Matrix kabellos wurde sind die verschwunden. Lohnen sich nicht mehr.
    Genug in den „guten alten Zeiten“ geschwelgt. Über einen kleinen Gedankenimpuls kann man die AR wieder einschalten, DNI sei dank. Direktes Neurales Interface; Praktische Erfindung.
    Sofort blenden sich die Meldungen ein, die in der kurzen Pause aufgelaufen sind. Werbemails – löschen, Werbeanzeigen – ausblenden, Kontaktanfragen – kurz betrachten. 5 Stück, 3 davon unsinnig, 2 Interessante. 1 Blondine, homo sapiens nobilis, Elfin also. Sieht gut aus. Profil ansehen. Keine gemeinsamen Interessen. Würde nicht funktionieren. Also Absage schicken. Die zweite Anfrage sieht schon interessanter aus. Norm, neongrüne Haare, leicht in die Richtung Neopunk. Gleich mal Anfrage für Treffen schicken. Leider ist sie schon wieder aus dem Viertel raus. Naja, sie wird die Nachricht kriegen und vielleicht antworten. Wäre zur Abwechslung mal wieder schön soziale Kontakte außerhalb des Jobs zu haben.
    Die Wolkenkratzer haben sich grün gefärbt. Smaragd-grün. Seattle ist die Emeraldcity. Irgendwie haben sich die Eierköpfe da oben in den Kopf gesetzt die Matrixpräsenz müsse genauso aussehen.
    'KAUFEN SIE POWER COLA! SIE WERDEN SICH SOOOO MUNTER FÜHLEN!'
    Scheiß Spam. Gleich mal den Filter auf drehen.
    So, viel besser.
    Natürlich filtert der bei den Einstellungen auch ein bisschen was raus, was interessant sein könnte, aber nichts lebenswichtiges.
    Die anderen Passanten umgibt ihre persönliche AR-Präsenz. Profile, Interessen, Informationen, die keinen interessieren. Wen interessiert das schon, ob der Typ da grade Maria Mercurial hört oder doch die neueste Goblin Rock Platte.
    Dann gibt’s da noch die Leute, die ihr Profil so spartanisch wie möglich halten. Nur drauf, was drauf muss. Die Daten, die die Sicherheitsdrohnen auslesen. Wollen unauffällig sein. Ein Anfängerfehler. Wer krampfhaft versucht nicht aufzufallen verrät sich genau dadurch. Der Trick ist es die richtige Mischung aus genug – natürlich falschen Daten – und gar keinen Daten zu finden. Man darf sich kein ganzes Profil aus den Fingern saugen. Das bietet zu viele Stolperfallen, wenn man mal überprüft wird.
    Und dann gibt’s natürlich noch die Personas. Die Gestalten von denen, die hier nur rein virtuell unterwegs sind. Die professionellen Matrixsurfer sieht man gar nicht. Die haben es nicht nötig hier mit ihren Personas an zu geben. Die die das tun sind die, die sich für ganz groß halten, und die die gesehen werden möchten.
    Da. Der Typ mit dem axtschwingenden Kriegericon. Sieht aus wie ein typischer Jugendlicher. Hat ein neues Kommlink bekommen, ein paar illegale Hackertools runter geladen und will sich jetzt beweisen. Sucht sich ein einfaches Ziel. Komm Junge, schau mich nicht so an. Such dir einen anderen, hier holst du dir nur eine blutige Nase.
    Na toll, hat er sich trotzdem mein Kommlink rausgesucht. Schaut sich die Firewall an. Gibt dummerweise nicht auf, obwohl die gut ist. Kommt daran vorbei. Gar nicht so schlecht der Typ.
    Komm schon, zieh dich zurück, bevor du was siehst, was du nicht sehen sollst.
    Mist, der gräbt zu tief. Lass mal lieber das IC auf ihn los. Nicht den Schwarzen Hammer, das wäre übertrieben, wollen hier ja keine Toten riskieren. Nein, das hier killt ihm nur sein neues Kommlink.
    Wie nicht anders zu erwarten war, schafft er es nicht sich rechtzeitig zurück zu ziehen. ByeBye Kommlink. Hoffe es war teuer, du Bastard.
    Sollte ihm eine Lehre sein.
    Ein gutes hat es aber. Immerhin zeigt so ein Vorfall, dass die Firewall veraltet ist. Natürlich könnte man die jetzt vom Hersteller updaten lassen. Würde aber eine Datenspur hinterlassen. Also schnell in den Online-Shop und die neueste Variante der Atztech-Professional-Fire-Wall-Suite runterladen. Natürlich die gecrackte. Die ohne eingebaute Hintertür. Mit 950 NuYen nicht ganz billig, aber die Qualität stimmt. BlackboxHackerParadise kann man vertrauen. Meistens. Also lieber noch mal schnell mit dem Virenscanner drüber. Keine Viren. Also installieren.
    Das müsste es erstmal gewesen sein mit den Hackerkiddies.
    Da vorne ist schon das Hotel. 3. Stock, Appartement 5. Mister John Freidank, Mittleres Management bei einer Tochterfirma von Horizon.
    Also hinein. Die gefälschte Übernachtungsbuchung an das Überwachungssystem senden.
    'ZUGANG GENEHMIGT. ÜBERNACHTUNGSDAUER 3 TAGE.'
    3 Tage. Wenn alles gut läuft brauche ich nicht einmal eine Stunde.
    Durch die Halle. Sieht ziemlich gut aus hier. Simulierte Blumen, vollsensorisch. Riechen besser als alle echten Blumen, die ich bisher gerochen habe – nicht dass das viele gewesen wären. Blumen sind teuer.
    Nicht ablenken lassen. Fokussiert bleiben.
    Rein in den Aufzug.
    Jammer aktivieren. Die Kameras zeigen eine kurze Fehlfunktion. Ich hab genau 1 Minute und 15 Sekunden bis das auffällt.
    Die Zeit ist knapp. Also Reflexbooster auf die höchste Stufe hochjagen. Die Zeit scheint sich zu verlangsamen. Hab das oft genug geübt. Die Zeit kann reichen. Also los.
    Zigarettenetui auseinander nehmen, Ring ausziehen und aufklappen, Kommlink auseinander brechen, zum schrauben fehlt die Zeit.
    Die Teile zusammensetzen. Den Lauf, den Griff, die Mechanik. So entsteht eine kleine Pistole. Für meinen Geschmack zu klein, aber das einzige, was so kurzfristig erhältlich war.
    Die übrigen Teile verschwinden lassen, wir wollen ja nicht, dass die im Aufzug liegen bleiben, also in die Hosentasche.
    Schnell das Sakko umprogrammieren. Aus schwarz wird rot mit goldenen Rändern. Wie es die Angestellten des Hotels tragen. Und raus aus dem Aufzug. Den Jammer deaktivieren. 1 Minute und 10 Sekunden, das war knapp.
    Dritter Stock auf zu Appartement 5. Da ist es ja schon. Klingeln.
    „Ja?“
    „Mister Freidank?“
    „Ja.“
    „Guten Morgen, ich bin vom Hotel und wollte mich persönlich bei Ihnen erkundigen, wie ihnen unser Haus gefällt.“
    „Kommen sie doch rein.“
    Oh, das war einfacher als gedacht. Mr. Freidank scheint ein bisschen naive zu sein. Egal, besser für mich.
    Durch die Tür. Warten bis sie wieder zu ist. Pistole zücken. Dank dem Reflexbooster kann ich sehen, wie sich das Verstehen in seine Züge schleicht. Bevor er es komplett realisiert hat drücke ich ab. Der Schuss sitzt. Genau zwischen den Augen. Mr. Freidank fällt um und ist tot, bevor er auf dem Boden aufschlägt.
    Jetzt fehlt noch das Ablenkungsmanöver. Oh Gott ist die Leiche schwer. Irgendwie werden sie immer schwerer, wenn sie tot sind.
    Raus auf den Balkon, aufs Geländer setzen. Jetzt nur noch ein kleiner Schubs. Er fällt. Ich renne zur Tür. Raus. Jetzt nicht den Aufzug nehmen. Also Treppen runter. Schnell, schnell, schnell. Immer einen Absatz auf einmal springen. Muskelverstärkung sei dank.2. Stock, 1. Stock. Erdgeschoss, jetzt nicht stehen bleiben, weiter runter. 1. Untergeschoss Küche, weiter, 2. Untergeschoss Serviceeinheiten. Hier bin ich richtig. Rein da. Das nächste Farbprogramm für das Sakko ausführen. Aus rot wird weiß. Das tragen die Reinigungskräfte hier. Wenn mich Semm nicht im Stich gelassen hat müsste der Wagen bereit stehen. Das SIN-Signal senden, mich als Reinigungsfahrer ausgeben.
    'AUTORISIERUNG BESTÄHTIGT, MR DEEDLER'
    Oh Gott, ich hasse Semm, immer diese beschissenen Decknamen.
    'IHR FAHRZEUG HAT BEREITS 3 MINUTEN VERSPÄTUNG. IHNEN WIRD HIERMIT EINE VERWARNUNG ERTEILT. FAHREN SIE UMGEHEND LOS. IHREM FAHRZEUG WIRD PRIORITÄT IM INTERNEN VERKEHR ZUGEWIESEN.'
    Danke Semm, auf dich kann man sich halt verlassen.
    Rein ins Fahrzeug und raus aus dem Gebäude. Im Parkhaus hab ich Priorität, kann an allen vorbeifahren. So müsste das immer sein.
    Hinter dem Hotel raus und um die Ecke. Im vorbeifahren seh' ich noch die Menge, die sich um den aufgetroffenen Körper von Mister Freidank schart.
    LoneStar sperrt gerade ab. Für einen kurzen Moment kann ich die Leiche sehen. Sie liegt in einer Pfütze aus ihrem Blut. Unter dem grauen Himmel, zwischen Hochhäusern aus Beton und Spiegelscheiben wird den Menschen klar, dass die schöne, neue, virtuelle Welt eben doch keine totale Sicherheit bietet. Der Regen, der das Blut in den Gulli spült wirkt wie ein kurzer Weckruf, doch die meisten drehen sich einmal um und schlafen weiter.
    Es regnet.
    Es regnet immer in Seattle.
    Nur meistens nehmen wir es nicht wahr.



    So das wars. Danke schon mal im Voraus für eure (hoffentlich :wink: ) positive Kritik.
    Weil ich da schon mal ne Frage zu bekommen habe: Semm ist ein Decker, der für den Hauptcharakter arbeitet.

  • Nette Geschichte, macht sich denke ich gut um meiner alteingesessenen SR3 Gruppe mal bißchen die AR von SR4 näher zu bringen.

    Es befinden sich weltweit über 550 Millionen Schusswaffen in Umlauf. Das heißt auf diesem Planeten hat jeder 12. Mensch eine Schusswaffe. Das führt zu der einen Frage: Wie bewaffnet man die anderen 11?


  • Wenn man die AR betrachtet, sieht man dann auch Personas, die nur virtuell unterwegs sind? Ich dachte immer, dass man virtuell so schnell unterwegs ist, dass der normale AR-Betrachter die nicht sieht.

  • Man sieht sie ja schon... man erkennt bloß soo viel nicht... wenn eine VR-Persona sich mit voller Geschwindigkeit bewegt...
    Soweit stell ich mir das vor...


    Ist übrigens gut geworden die Geschichte! Gefällt mir sehr. Gibts da noch mehr von?

    ...Und aus dem Chaos sprach eine Stimme zu mir "Lächle und sei froh, es könnte schlimmer kommen. Und ich lächelte und war froh, und es kam Schlimmer...
    ...Und der Tod legte die Sense beiseite und stieg auf den Mähdrescher, denn es war Krieg...
    Quoth the Raven: Nevermore


    Mein oberstes Regelsystem ist immer noch GMV!!

  • Geschwindigkeit gibt es in der Form nicht in der Matrix.

    In a free society, diversity is not disorder. Debate is not strife. And dissent is not revolution.

    George W. Bush

    And while no one condones looting, on the other hand one can understand the pent-up feelings that may result from decades of repression and people who've had members of their family killed by that regime, for them to be taking their feelings out on that regime.

    Donald Rumsfeld

  • Aber in Standart-Metaphern schon
    z.B.: Die "Emerald City" Metapher von Seattle, die hier beschrieben wird.

    ...Und aus dem Chaos sprach eine Stimme zu mir "Lächle und sei froh, es könnte schlimmer kommen. Und ich lächelte und war froh, und es kam Schlimmer...
    ...Und der Tod legte die Sense beiseite und stieg auf den Mähdrescher, denn es war Krieg...
    Quoth the Raven: Nevermore


    Mein oberstes Regelsystem ist immer noch GMV!!

  • Auch da nicht - und das ist eine Metapher für die Gebäude, etc...

    In a free society, diversity is not disorder. Debate is not strife. And dissent is not revolution.

    George W. Bush

    And while no one condones looting, on the other hand one can understand the pent-up feelings that may result from decades of repression and people who've had members of their family killed by that regime, for them to be taking their feelings out on that regime.

    Donald Rumsfeld

  • nicht? Kannst du mir da mal ne Stelle aus dem Regelwerk nennen?
    Ich meine übrigens nicht, dass die Personas wirklich schwer aufzuspüren sind, oder so... Aber wenn man sie nicht direkt anwählt (oder speziell anschaut), sondern sich einfach von der Metaphorik berieseln lässt, müsste man sie doch auf ihrem Weg von einem Knoten zum Nächsten (was schnell geht) sehen... und zwar nur kurz...

    ...Und aus dem Chaos sprach eine Stimme zu mir "Lächle und sei froh, es könnte schlimmer kommen. Und ich lächelte und war froh, und es kam Schlimmer...
    ...Und der Tod legte die Sense beiseite und stieg auf den Mähdrescher, denn es war Krieg...
    Quoth the Raven: Nevermore


    Mein oberstes Regelsystem ist immer noch GMV!!

  • "Taboo" schrieb:

    Ist übrigens gut geworden die Geschichte! Gefällt mir sehr. Gibts da noch mehr von?


    Ich arbeite gerade an einer zweiten Geschichte. Soll eine lose Fortsetzung werden. Sprich gleicher Hauptcharakter, aber inhaltlich nicht auf dieser hier aufbauend.


    "Karmageddon" schrieb:

    Nette Geschichte, macht sich denke ich gut um meiner alteingesessenen SR3 Gruppe mal bißchen die AR von SR4 näher zu bringen.


    Aus einem ähnlichen Grund hab ich mich auch daran gesetzt. Ich wollte die kabellose Matrix im Alltag eines Runners darstellen. Hoffe die Geschichte hilft dabei deinen Spielern SR4 näher zu bringen. :wink:


    Danke euch für die positive Kritik. Das bestätigt mich darin die Fortsetzung noch energischer anzugehen. Wenn sie fertig ist werd ich sie auch hier posten. Kann aber noch ein bisschen dauern. Semesterferien mit Hausarbeiten und so. :?


    Ich hab keine Ahnung, ob sich das alles mit den Regeln deckt, aber so stell ich mir die kabellose Matrix vor. Ob man die einzelnen VR-Personas sieht ist mMn für die Geschichte aber eher unrelevant. Jeder hat halt sein eigenes Verständnis der SR-Welt. Gerade diese Vorstellungspluralität macht es doch reizvoll.