Beiträge von Dschinn

    Mühelos verlagerte Lysander seine Wahrnehmung wieder aus dem Astralraum in die mundane Welt und stellte die inzwischen leere Kaffeetasse mit leisem Klacken vor sich ab. Die leuchtenden Farben der Auren aller Lebewesen im Raum erloschen und die Farben der unbelebten Dinge kehrten zurück. Am Rande seines Sichtfeldes blendete sein Kommlink in der AR ein Textfeld mit Betsys Ansatzpunkten an. Gründlich wie immer. <Er sagt die Wahrheit, Elisabeth>, beantwortete Lysander ihre Frage lautlos. <Sergej, ich habe bereits einen Unternehmensbericht West Coast Cargos bekommen.> Er lud das umfangreiche Dokument mit einem Gedanken in ihr Netzwerk. <Meiner Meinung nach, belegt dieser Mr. Taylors Darstellung. Außerdem scheint es so, dass West Coast Cargo im vergangenen Jahr regelrecht vom Pech verfolgt war und so mehr und mehr in die schlechte wirtschaftliche Lage geriet, in der das Unternehmen sich jetzt befindet. Und, Elisabeth hat es schon mit weitaus weniger Detailinformationen erkannt, mir kommt das ebenso merkwürdig vor.>


    In der Seitenstraße vor der Renton Center Mall, nahmen die Motorräder bedächtig Kurs auf die Kurve, mit der sie die südöstliche Ecke umrunden würden. Die beiden Sicherheitsgardisten blickten ihnen noch kurz hinterher und setzten ihre Patrouille zum südwestlichen Ende der Mall fort. Die Biker entfernten sich zwar aus Sergejs unmittelbarer WiFi-Reichweite innerhalb derer er verborgene Geräte aufspüren konnte, aber die getaggten AROs der Biker-Kommlinks nebst Pistole blieben sauber markiert.


    „Mr. Taylor, wenn sie gestatten“, erwiderte Lysander, nach der kaum merklichen Pause des digitalen Gedankenaustauschs. „Es liegt nahe, dass die Täter über Insiderwissen verfügten. Haben sie einen Verdacht, wie sie daran gekommen sind?“ Sein Gesprächspartner erbleichte sichtlich. „Ich… wenn sie es so sagen, klingt es danach. Darauf bin ich nicht gekommen. Aber nur eine Handvoll Mitarbeiter wusste, wem das Lagerhaus tatsächlich gehört.“


    „Was können sie uns über die Angreifer das Lagerhauses sagen?“, fragte Lysander sofort nach. Andrew Taylor zuckte leicht mit den Schultern. „Nur wenig. Natürlich gibt es Kameras im Lagerhaus und die sind mit dem Host unserer Niederlassung in Tacoma verbunden, aber alle Kameras sind unmittelbar vor dem Überfall ausgefallen. Das muss ein Hackerangriff gewesen sein. Unsere Lagerarbeiter berichteten, dass auch die Lichter ausgingen, deshalb haben sie nicht viel erkennen können, als sie aus der Halle getrieben. Zwei unserer Mitarbeiter wehrten sich und wurden angeschossen. Sie befinden sich im Tacoma Charity Health General in Behandlung.“ Er richtete sich etwas auf. „Selbstverständlich bin ich selbst zur Lagerhalle gefahren. Ein halbes Dutzend Gangmitglieder bewachte die Tore. Einer von ihnen muss mich erkannt haben. Er bedrohte mich mit einer Pistole und sagte, ich solle verschwinden, das sei jetzt ihr Lagerhaus.“ Seine Stimme erstarb.


    Lysander dachte einen Moment nach und entschied sich. „Wir helfen ihnen, Mr. Taylor“, sagte er schlicht und streckte dem CEO seine Rechte entgegen. „Vielen Dank, Mr. Raven!“ Andrew Taylor ergriff Lysanders Hand über den makellos sauberen Tisch mit beiden Händen und drückte sie dankbar. „Sie sind unsere Rettung!“


    „Noch etwas, Mr. Taylor, meine Mitarbeiter benötigen den Namen ihrer Scheinfirma, die Adresse und einen Lageplan des Lagerhauses, sowie Zugang zu ihrer Niederlassung.“ Sichtlich erleichtert, nickte Mr. Taylor eifrig und veranlasste in seiner AR die Übertragung einer Datei mit einer schematischen Darstellung des Lagerhauses, einer Lagerliste und den baulichen Sicherheitsmaßnahmen. Lysander verschob die erhaltene Datei direkt in ihr verschlüsseltes Netzwerk. „Die Firma heißt Clark Storage Ltd., fügte ihr Klient hinzu. „Der Mädchenname meiner Frau. Nicht besonders einfallsreich.“ Er zuckte verlegen mit den Schultern.


    Vor der Mall verschwanden die beiden Sicherheitsleute um die südöstliche Ecke der Renton Center Mall und folgten der Außenwand des Gebäudes in nördlicher Richtung. Auch hier behielt Sergej die getaggte Holdoutpistole im Blickfeld. Sergej suchte standardmäßig nach weiteren versteckten Geräten. Plötzlich nahm deren Anzahl in seiner Reichweite von einem Moment zum nächsten unvermittelt zu.

    Arashi klopfte dem erwachenden Hachidori beruhigend auf die Schulter. Er hatte ihn zuvor zu Sanro-kais neu beschafftem Honda Minibus getragen und auf den Beifahrersitz drapiert. <Red, hol noch ein paar Detailinformationen aus Taki heraus>, subvokalisierte er. <Form und Farbe des Kommlinks wären interessant und was sich auf den Credsticks befand. Ich schlage vor, wir lassen die drei dann mit dem Transporter zurück. Sie sind ja aus der Gefahrenzone. Was meint ihr? >


    Er verstaute schnell sein Medkit und eine Duffelbag im Kofferraum des Hondas und beugte sich noch einmal in den BMW, um die, zwischenzeitlich wieder aufgeladenen, Taserpfeile in die vorgesehenen Schlaufen seines plasstahlgrauen Mantels zu stecken. Dann griff er noch unter den Fahrersitz und holte seinen Einsatzrucksack und die erbeutete Maschinenpistole hervor, bevor er in der AR alle Türen des BMW verschloss. <Sanro-kai, könnt ihr den BMW hinter uns her steuern und in der Nähe unseres nächsten Ziels abstellen, damit wir wieder ein sauberes Fahrzeug zum Wechseln in der Hinterhand haben?>


    Dann ging er zurück zum Minibus und steckte die SCK 100 und Yuris Savalette Guardian in die Duffelbag. Schließlich schloss er den Kofferraum und setzte sich auf den Fahrersitz. Der Einsatzrucksack wanderte wieder unter seinen Sitz. <Wenn du alle Informationen hast und Yokota-san eingestiegen ist, kannst du einfach herüberkommen und wir fahren los>, sendete er an Red gerichtet. <Es wäre gut, wenn du dir Yokotas Verletzungen noch einmal ansehen könntest.> Aus dem Augenwinkel bemerkte er, dass Boku noch auf seiner Schulter klebte. Er löste Boku von seinem Argentum-Mantel und setzte die ballförmige Flashpackdrohne in das induktive Ladefach des Hondas. So, alles hübsch aufgeräumt, dachte er.

    Arashi starrte die junge Japanerin an. „Eigentlich haben wir uns gerade bereits vorgestellt, Ayaka. Ihr erinnert euch nicht daran, oder?“ Er schüttelte verwirrt den Kopf. „Woran erinnert ihr euch?“ In seinem Sichtfeld scrollte ein Textfeld nach unten, Reds Wortwechsel mit Taki wiedergebend. „Wartet“, hob er leicht die Hand, „ich komme auf meine Frage zurück, aber zuerst müssen wir uns um das Business kümmern.“ Er überflog kurz die Worte. Na super, die Credsticks hätten wir beinahe bekommen können. Heute läuft es wirklich nicht. <Red, frag Taki bitte nach dem Kommlink>, warf er kurz im Teamnetzwerk ein.


    <Yuri hat also die Credsticks>, fügte er nach einem Augenblick hinzu. <Es wird keinen Sinn machen, ihm hinterher zu hetzen. Das Kommlink ist unser Primärziel, konzentrieren wir uns darauf. Sanro-kai, könnt ihr Yuris Kommlink weiter anzapfen, damit wir ihn zum einen im Auge behalten und eventuell wieder auf die Credsticks zurückkommen können, wenn er uns wieder nahe kommt, und wir erfahren, ob er uns weiter Ärger machen möchte.>


    Arashi öffnete die Tür des BMW und stieg aus. <Wir lassen den Transporter zurück. Wagenwechsel bitte. Ich sehe einmal nach Hachidori.> Er lief mit schnellen Schritte nach vorne und öffnete die Fahrertür des Transporters.

    Taylor scheint sehr aufgewühlt zu sein, was immer wieder Messspitzen erzeugt, aber Betsy geht mit hoher Wahrscheinlichkeit davon aus, dass er die Wahrheit sagt.

    Lysander erreichte den Tisch, an dem der schmale menschliche Mann soeben aufgestanden war. Sie reichten sich die Hände. „Mr. Taylor“, begrüßte Lysander sein Gegenüber nach einem festen Händedruck. „Ich freue mich, sie kennenzulernen. Das ist meine Mitarbeiterin, Ms. Bennet.“ Er wies auf Betsy. Mr. Taylor nickte ihr mit einem schwachen Lächeln freundlich zu. „Sehr erfreut, Ms. Bennet.“ Dann wandte er sich wieder Lysander zu. „Mr. Raven, zunächst möchte ich mich bedanken, dass Sie bereit waren sich so kurzfristig mit mir zu treffen.“ Lysander winkte ab und sie setzten sich. Während Mr. Taylor sich erbat, über das AR-Display des Cafés für sie drei jeweils einen Klondike Premium Kaffee mit einem Stück hausgemachten Apfelkuchen zu bestellen, legte Lysander ein flaches Kästchen auf den Tisch. Ein White-Noise-Generator, der verhinderte, dass sie belauscht werden konnten. Gleichzeitig klinkte er den Audiofeed seines integralen Kommlinks in ihr verschlüsseltes Netzwerk ein, damit das Team mithören konnte.


    Ihr Gegenüber räusperte sich, während hinter der Bar der hochwertige Kaffeeautomat selbstständig mit der Zubereitung ihrer Getränke begann. „Mr. Raven, wie sie wissen, bin ich CEO von West Coast Cargo und meinem Unternehmen droht in wenigen Tagen die Zahlungsunfähigkeit. Viele meiner Mitarbeiter wären dann arbeitslos und könnten ihre Familien nicht mehr ernähren. Ich bin verzweifelt und weiß nicht mehr, an wen ich mich noch wenden könnte.“ Mr. Taylor hielt für einen Moment inne, als die Bedienung, eine gertenschlanke junge Elfe mit frechem, silberfarbenem Kurzhaarschnitt und schneeweißer Bluse auf einem Tablett in Buchenholzoptik die dampfenden und dabei köstlich nach echtem Kaffee duftenden Tassen vor ihnen abstellte und dann auch die Teller mit dem lecker aussehenden Apfelkuchen verteilte. Als die Elfe zum nächsten Tisch weiterzog, um dort abzuräumen, sammelte sich ihr potentieller Klient kurz und fuhr dann fort: „Wir sind eine mittelständische Spedition mit etwa 140 Mitarbeitern und betreiben drei Lagerhäuser in Seattle, sowie zwei weitere in der Front Range Free Zone und in Los Angeles. Vor zwei Tagen wurde unser Lagerhaus in Everett von Kriminellen überfallen und besetzt. Zwei meiner Mitarbeiter, beide SINlos, wurden dabei schwer verletzt. In dieser Lagerhalle stehen unter anderem sechs Truck-Ladungen Terminfracht von Renraku.“ Er seufzte. „Palettenweise die noch nicht veröffentlichten Sensei MediCare Armband-Kommlinks mit integriertem Vitalmonitor, die wir in zwei Tagen an die Einzelhändler und Flagship-Stores rechtzeitig zum Erscheinungstermin ausliefern müssen. Sonst droht uns eine vernichtende Vertragsstrafe.“ Mr. Taylor bemerkte, dass er nervös die Hände ineinander verkrampft hatte und löste seine Finger voneinander.


    Lysander nahm ruhig einen Schluck des gar nicht bitteren Kaffees und bedeutete seinem Gegenüber fortzufahren. Mr. Taylor nickte. „Sie fragen sich sicherlich, warum ich nach dem Überfall nicht sofort Knight Errant kontaktiert habe. Wissen sie, mittelständische Speditionen haben es heutzutage wirklich nicht leicht. Manche Frachten kann ich einfach nicht über die Bücher laufen lassen, damit ich meine SINlosen Mitarbeiter bezahlen kann. Deshalb brauchte ich ein Lagerhaus, welches mir nicht offiziell gehört. Ich habe es vor Jahren über eine Scheinfirma gekauft. Die Besitzdokumente sind auf einem Kryptoschlüssel gespeichert, der sich stets im Safe meines Büros befand. Vorgestern Nacht wurde aber auch in unsere Büroräume eingebrochen. Sie ahnen es“, er sah Lysander grimmig in die Augen. „Der Kryptoschlüssel wurde gestohlen.“


    Interessant, dachte Lysander, da hat aber jemand einen großen Aufwand betrieben. Er warf Betsy einen kurzen Blick zu, als Mr. Taylor bereits fortfuhr. „Würde ich Knight Errant einschalten, würde unvermeidbar der Internal Revenue Service* informiert werden und West Coast Cargo unter Steuernachforderungen begraben. Meine Mitarbeiter säßen genauso auf der Straße. Unternehme ich nichts, erwartet uns Renrakus Vertragsstrafe. Diese können wir nicht bezahlen. Genau genommen kann ich auch sie nicht bezahlen, wenn ich nicht auch einige der anderen dort gelagerten Waren verkaufen kann.“ Mr. Taylor zuckte hilflos mit den Schultern. „Jedenfalls, wenn wir zahlungsunfähig sind, wird KondOrchid mein Unternehmen aufkaufen. Sie haben schon vor beinahe zwei Jahren 10% der Unternehmensanteile von unserer Bank kaufen können und warten seitdem auf ihren Moment. Ihnen kämen unsere Ressourcen und Kunden sehr gelegen, um ihr eigenes Netzwerk auszubauen. Die SINlosen Mitarbeiter werden dann sofort aussortiert werden und am Ende werden vielleicht noch 50 Leute beschäftigt bleiben, das aber zu Hungerlöhnen.“


    „Eigentlich hätten die Kommlinks gar nicht dort lagern dürfen, aber unsere offiziellen Lagerhäuser waren voll und so gab es für diese Ladungen keinen Platz mehr. So etwas passiert“, beendete er seine Ausführungen leiser. „Sie sehen, West Coast Cargo steht am Abgrund. Mr. Raven, bitte helfen Sie uns!“


    * Finanzministerium der UCAS

    Alarmiert hob Arashi unwillkürlich eine Augenbraue. Was ist hier bloß los? Er scrollte noch einmal durch die Diagnosedaten des medizinischen Expertensystems, ob Ayaka auch eine Kopfverletzung erlitten hatte. Negativ. Er neigte den Kopf und sah das Mädchen forschend an. Eigentlich passte auch alles an ihr zusammen. Abgesehen davon, dass sie nicht zu wissen schien, wer sie waren. Seine Cyberaugen zoomten Ayaka heran und schossen eine Nahaufnahme ihres Gesichts.


    Er sandte das Foto in das Teamnetzwerk. <Sanro-kai, hier ist ein Bild von Yokota-san. Sie scheint verwirrt und verhält sich nicht, als wäre sie unser Teammitglied. Könnt ihr prüfen, ob es sich bei ihr um unsere Verstärkung handelt? Ist ihr Kommlink in unser Netzwerk eingeloggt? >, subvokalisierte er. Dann wandte er sich an die Japanerin. „Ayaka, sagt mir, weshalb wart ihr in diesem Gebäude und was habt ihr dort gemacht?“

    Cleos Radarscan beim Betreten des Kaf-Haven brachte, außer der kurzen Kommlink-Störung eines Teenie-Mädchens in Schuluniform, keine Auffälligkeiten zu Tage und auch die Beobachtung der Kunden bei Lysanders und Betsys Ankunft, ließ kein gesteigertes Interesse an den Neuankömmlingen erkennen. Nur der müde wirkende, ältere Mann, dessen Tisch Lysander ansteuerte, entdeckte diesen und blickte ihn unverwandt an. Seine Haltung straffte sich und er stand auf.


    Alle Teammitglieder bemerkten eine Fußstreife des Sicherheitsdienstes, die um die südöstliche Ecke der Mall bog und langsam durch den Außenbereich des Kaf-Haven patrouillierte. Betsy stand zwar mit dem Rücken zum Eingang, nutzte aber geschickt den hinter der Bar befindlichen Spiegel, um die Umgebung zu beobachten. Zwei uniformierte Gardisten in einer Panzerweste mit dem Logo von Eagle Security schritten ohne Eile vorbei. Ein robust gebauter Ork mit brünettem Bürstenhaarschnitt und eine deutlich kleinere menschliche Frau mit langen blonden Haaren, die sie zu einem losen Dutt hochgesteckt hatte. Beide trugen einen Ares Predator V und einen Betäubungsschlagstock am Gürtel sowie, in einem waagerecht an der Panzerweste befestigten Holster, einen Yamaha Pulsar Taser. Sergej verifizierte sofort die ausgestrahlten SINs der Sicherheitsgardisten als echt.


    Beinahe gleichzeitig umfuhren zwei Motorräder die südwestliche Ecke der Mall. Einer der beiden Fahrer, ein kaum achtzehnjähriger Mensch mit einem langen Schopf blonder Dreadlocks auf einer schwarzen Suzuki Mirage, verbarg seine Augen hinter einer verspiegelten Pilotenbrille. Unter seiner gepanzerten Jacke konnte er durchaus eine Schusswaffe verbergen, es war jedoch auf diese Entfernung keine zu erkennen. Der zweite Motorradfahrer, ebenfalls ein Mensch mit kurz geschnittenen schwarzen Haaren und modisch getrimmtem Bart schien kaum älter zu sein. Er fuhr auf einer blutrot lackierten Yamaha Rapier. Sein granitfarbener Kurzmantel verbarg ebenso etwaige Bewaffnung. Die beiden passierten zuerst Sergej, der es sich in einem asiatischen Imbiss auf der Arkadenseite bequem gemacht hatte. Franklins Drohne schwebte unbemerkt über der Straße und behielt alle vier Personen in seiner Sensorwahrnehmung.


    Die beiden Rennmotorräder rollten in Schrittgeschwindigkeit dahin. Im Augenblick des Passierens wandte der Schwarzhaarige kurz den Kopf zu Sergej, als habe sein Instinkt bemerkt, dass dieser ihn beobachtete. Ohne die geringste Veränderung des Ausdrucks seiner dunklen Augen, wandte er sich aber wieder ab und unterhielt sich weiter mit seinem Begleiter. Er hatte Sergej nicht erkannt. Das Duo trug keine Gangaufnäher und auch ihre Rennmaschinen waren zwar aufgemotzt, aber nicht in Go-Gang-Manier gestylt.


    Sergej stellte sofort fest, dass die jungen Männer keine SINs ausstrahlten, was hier jedoch nicht verboten war. Da er auch keine Kommlinks entdecken konnte, mussten sie diese im versteckten Modus betreiben. Er startete einen weiteren Suchlauf. Bisher hatte er schon eine ganze Reihe PANs und Geräte im versteckten Modus entdeckt. Interessantes war aber nicht darunter gewesen. Es schien sich auch keine außergewöhnliche Anzahl verborgener Signale in seiner WiFi-Reichweite zu befinden. Sergej sortierte die versteckten Geräte nach Entfernung zu seinem Standort und identifizierte so schnell die beiden gesuchten Kommlinks. Seine AR markierte ein Erika Elite als zu dem blonden Motorradfahrer gehörig und in seinem PAN befanden sich unter anderen Kleingeräten auch ein Smartlink und eine Pistole. Browning Ultra-Power. Das Kommlink des schwarzhaarigen Bikers war ein Renraku Sensei. Sergej konnte hier keine auffälligen verbundenen Geräte entdecken. Moment, ein bisschen weiter entfernt befand sich noch ein weiteres verstecktes Gerät. Eine Walther Palm Pistol-Holdout. Der orkische Eagle-Security-Mann trug sie in einem Knöchelhalfter, stellte Sergej fest.


    Die beiden Sicherheitsgardisten hatten die Motorradfahrer ebenfalls bemerkt und beäugten sie kritisch, unternahmen aber nichts.

    Zeigen die Diagnosedaten des Medkits etwas über eine Kopfverletzung? Kann Arashi an Yokota Details erkennen, die nicht passen? Hat sie ihr Schwert noch?


    Wahrnehmungsprobe (Sehen):

    INT 3 + Wahrnehmung 6 +2 Sehen = 11W6 = 2 Erfolge


    Im nächsten IP-Post schickt Arashi Sanro-kai ein Bild von Yokota und fragt, ob sie definitiv die Verstärkung ist, ob sie ihr Kommlink am Körper trägt und ob es sich im Teamnetzwerk befindet. Eine Antwort könnte ich gleich mit einbauen.

    Während sich Lysander mühsam durch die umfangreichen Unterlagen arbeitete, die sein Steuerberater ihm zur Durchsicht eingereicht hatte, las er in der AR beiläufig die Nachrichten seines Teams mit. Ganz schön viel los, heute. Unwillkürlich lächelte er. Ihnen kam eine neue Aufgabe genauso gelegen, wie ihm selbst. <Nein, Leute, ich erwarte keinen Ärger. Aber man weiß ja nie. Außerdem erfahrt ihr dann gleich aus erster Hand, um was es unserem Klienten geht.> Er blickte wieder auf die absurd hohe Seitenanzeige, der noch freizugebenden Steuerdokumente. Drek, noch eine Stunde, dachte er missmutig.


    Um 13:16 Uhr steuerte Lysander den kraftvollen Saab Dynamit mit sportlichem Tempo aus dem Midway Park Circle auf den Highway 516 nach Osten. Er war froh, dass er den Steuerunterlagen für einige Zeit entkommen konnte. Cleo hatte sich nun doch der Backup-Gruppe angeschlossen und statt ihr wartete Betsy bereits neben dem Sportwagen, als Lysander den abgetrennten Tiefgaragenbereich ihres Fuhrparks erreichte. Er sah während der Fahrt immer wieder einmal nach seiner Beifahrerin, ob ihr sein rasanter Fahrstil unbehaglich war. Sie durchfuhren verkehrsbedingt in deutlich gemächlicherer Geschwindigkeit Kent und folgten dann dem Highway 515 nach Norden. Als sie schließlich den Highway verließen, war es nicht mehr weit, bis sie um 13:53 Uhr die Renton Center Mall erreichten.



    Renton, Seattle, UCAS


    Da Seattle gemeinhin als das Herz und der Ursprung der Kaf Culture angesehen wurde, zumindest von den patriotischen Einwohnern des Metroplexes, überraschte es nicht, dass gefühlt wöchentlich neue Lokale mit aufwändig in Szene gesetzten Kaffee-Spezialitäten in aller Munde waren. Das derzeit angesagte Kaf-Haven war an der Südseite der weitläufigen Renton Center Mall gelegen. Es warb vor allem für die, wenn man der ansprechend gestalteten AR-Werbung Glauben schenken mochte, koffeinhaltigen Gaumengenüsse der kleinen Kaffeerösterei Klondike Roast aus Snohomish.


    Gekonnt parkte Lysander den mattschwarzen Saab Dynamit beinahe unmittelbar vor dem offen angelegten Außenbereich ihres Treffpunktes. Auf der dem Center zugewandten Seite der Seitenstraße, welche die Südseite der Mall in einem langen Bogen umschloss, war schräg zur Fahrtrichtung eine Vielzahl von Parkplätzen auf den Asphalt gezeichnet. Die gegenüberliegende Straßenseite bestand aus mehrstöckigen Geschäftshäusern, deren Erdgeschosse sich zu einem Arkadengang öffneten, der es den zahlreichen Passanten ermöglichte, selbst bei Regen trocken vor den bunt dekorierten Schaufenstern der Ladengeschäfte zu flanieren.


    Regen war jedoch gerade nicht zu erwarten, stellte Lysander fest, als er sich vor dem Aussteigen kurz umblickte, um Betsy die Gelegenheit zu geben, zuerst auszusteigen. Er wusste, dass sie es schätzte, für einen Moment die Umgebung sondieren zu können. Möglicherweise war es etwas übertrieben, schließlich hatte er sich jahrelang ständig in Gefahr begeben und konnte durchaus auf seine Kampfinstinkte vertrauen, aber gute Angewohnheiten sorgten auch dafür, dass man noch länger am Leben blieb. Ein paar Augenblicke später war auch er ausgestiegen, schloss seine Wagentür und stellte er sich zu ihr auf den Bordstein. Die Sonne hatte den leichten Morgennebel zwischenzeitlich vertrieben und nur wenige schneeweiße Wolken zogen langsam über den Himmel.


    Sie durchquerten den mäßig besuchten Außenbereich des Kaf-Haven und strebten dem Eingang zu, dessen doppelflügelige Glastüren aufgestellt waren. Zwischen ahornfarbenen Rattanstühlen und dazu passenden Glastischen waren auf der Terrasse lindgrüne Sonnenschirme verteilt. Hier und da hatten deren Sensoren bereits die Temperatur auf der sonnenbeschienen Bestuhlung als so warm eingestuft, dass sich einige der Sonnenschirme selbsttätig entfaltet und zur Sonne ausgerichtet hatten.


    Einige Besucher betrachteten Lysander und Betsy neugierig, als diese an ihnen vorbeigingen. Lysander trug einen sowohl sportlichen, wie eleganten, und kaum wahrnehmbar gepanzerten, Anzug der Marke Executive Suite von Zoé, bestehend aus schwarzer Hose und tailliertem Sakko, über einem schneeweißen Hemd mit offenem Haifischkragen. Mit wenigen Schritten nahmen sie die fünf Stufen auf den breiten, von mehreren Pflanzkübeln dekorativ gesäumten, Türabsatz und betraten das Café.


    Der Innenraum des Kaf-Haven war in warmen Brauntönen gehalten und verströmte ein beruhigendes Ambiente. Nur eine Handvoll Tische waren besetzt. Lysander erkannte seine Verabredung sofort aus den Bildern des Unternehmensberichts, den er am Morgen gelesen hatte. Andrew Taylor, war ein schmaler Mann Anfang Fünfzig mit graumelierten Haaren. Er saß allein an einem Tisch für vier Personen in der Mitte des Cafés. Er schien seinen konservativen schiefergrauen Anzug von Mortimer of London nicht richtig auszufüllen, als hätte er kürzlich einiges an Gewicht verloren. Seine Schultern hingen herab und sein Gesicht war von Sorgenfalten geprägt.

    the guardian : Hier endlich Sergejs Suchergebnis...


    „Freut mich, euch kennenzulernen, Ayaka. Ich bin Arashi“, sagte er lässig und deutete eine minimale Verbeugung an, während er sich in der AR durch die Diagnosedaten des Medkits scrollte. „Wir haben uns vorhin bereits kurz gesprochen.“ Linker Arm gebrochen, mehrere Rippen angeknackst und eine Menge Prellungen, las er. „Sehr ihr nicht in der AR mein Icon im Teamnetzwerk?“ Er hob fragend eine Augenbraue, während er ihren, nun verbundenen, Arm schiente. Dank eines schmalen Geckostreifens, konnte Ayaka die Schiene unauffällig an passender Stelle an ihrem Körper befestigen.


    Dann nahm er nach den Vorgaben des Expertensystems einen kleinen Stift mit kühlendem Chemikalienmix, folgte der AR-Anleitung und strich damit über die aufgesprungene Lippe der Japanerin. Bereits nach ein paar Augenblicken konnte man wahrnehmen, wie die Medikamente wirkten und die Schwellung zurückging. „Wir müssen von Taki erfahren, wo sich das Kommlink unserer Zielperson befindet. Und dann werden wir es sicherstellen“, fügte er hinzu. „Die Frage ist nur, ob ihr in der Verfassung seid, uns dabei zu begleiten.“

    Endlich waren sie unterwegs. Arashi aktivierte den Autopilot des BMW 400GT und wies ihn an, dem heruntergekommenen Transporter zu folgen, den sie requiriert hatten. <Sanro-kai, könnt ihr, abgesehen von eventuellen Verfolgern, auch ein Auge auf die Autopiloten unserer Fahrzeuge halten, damit wir uns um andere Dinge kümmern können?> Er gab den Gerätezugriff auf das Auto für ihren geheimnisvollen Hacker frei. Dann bemerkte er, dass etwas in seinen Rücken drückte. „Ach so.“ Er beugte sich nach vorne, griff an seinem Rücken unter den Mantel und löste die aufgehobene SCK Maschinenpistole von seinem Gurtsystem. Er vergewisserte sich, dass sie gesichert war und legte sie unter den Fahrersitz, wo er auch bereits seinen Rucksack untergebracht hatte.


    Dann wandte er sich dem schwer verletzten Mädchen auf dem Fahrersitz zu, das ihn aus großen Augen verwirrt anblickte. Ihre Maske hielt sie kraftlos in einer Hand. Arashi nahm auch seine ballistische Maske ab und schob sie in den Rucksack, während er ihren Blick ruhig erwiderte. Er nickte ihr zu und fuhr beide Sitze maximal zurück, um etwas Raum für die Erste Hilfe zu erhalten. „Wie fühlt ihr euch, Yokota-san?“, fragte er sie, als er von der Rückbank das militärische Medkit heranzog. Er öffnete den stabilen Hartschalenkoffer. Zuerst brachte er die Sensorpatches an, damit das Expertensystem eine Diagnose ihrer Verletzungen erstellen konnte, bevor er sanft Yokotas Handgelenk ergriff und auch das Injektionssystem anschloss. Mit einem Auge behielt er die Straße im Blick. Auch wenn Sanro-kai das Spatzenhirn des Autopiloten beaufsichtigte, konnte ein weiteres Paar Augen nicht schaden.


    Während sie auf die Diagnosedaten und das Wirken der ersten Medikamente warteten, lud Arashi noch seine Pistole nach und warf alle leeren Taserpfeile in die Induktionsladeschale der Mittelkonsole. <Red, hast du Takis Mutter behandeln können? Frag Taki, was sie über den Tod unserer Zielperson, sein Kommlink und die Credsticks weiß. Lass uns mithören, dann sind wir alle auf dem gleichen Stand.> Nach den Anweisungen des Medkit-Expertensystems begann er mit Yokotas Behandlung.

    Nachdenklich lehnte Lysander sich in dem unverschämt bequemen Bürosessel zurück, der seine Form während der Bewegung ergonomisch an seine schlanke Statur anpasste. Mit einer knappen Handbewegung wischte er das AR-Fenster mit dem Unternehmensbericht, den er sich gerade angesehen hatte, aus seinem Blickfeld. Abwesend drehte er eine kanariengelbe Keramiktasse mit dampfendem Soykaf in seinen Händen, während er das soeben Gelesene verarbeitete.


    Ein paar Minuten später hatte er seine Gedanken sortiert. Lysander gab sich einen Ruck und schwang die Lehne des kastanienbraunen Sessels wieder nach vorne. Er stellte die, zwischenzeitlich geleerte, Tasse auf dem Schreibtisch ab, öffnete in der AR das Kommunikationsnetzwerk seines Teams und nahm eine Sprachnachricht auf. <Guten Morgen Leute>, begann Lysander mit ruhiger Stimme. <Ich habe eine Verabredung mit einem Klienten. Ich hätte euch gerne als Rückendeckung dabei. Ich treffe mich mit ihm im Kaf-Haven, ihr kennt es vielleicht, das In-Café am Renton Mall Center. Verabredet sind wir für 14:00 Uhr. Ich fahre um 13:15 Uhr los. Fährt jemand mit mir im Saab?> Sein Blick streifte den ausladenden Wandbildschirm an der gegenüberliegenden Raumseite, der gerade ohne Audio regionale Wirtschaftsnachrichten wiedergab. 10:02 Uhr zeigte die Zeitanzeige in der Bildschirmecke. Na schön, es ist noch etwas Zeit für die liebe Büroarbeit, dachte Lysander seufzend.

    Dann würde es Sinn machen, wenn Hachidori fährt und Red Takis Mutter verarztet.


    In meinem nächsten Post könnte Arashi den BMW auf GridGuide fahren lassen und Yokota mit dem Medkit behandeln. Ich hatte die Hoffnung, dass es so käme, dass sie von Red geheilt wird, aber Arashi kann das natürlich auch nicht vorschlagen, da er das nicht weiß... Gleichzeitig könnte er Red vorschlagen, Taki zu befragen.


    Wer postet als Nächstes?