[IP] Verrat

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#162

„Weg hier ist schon mal gut.“ Er wirkte immer noch gehetzt, fuhr mit der Zungenspitze über seine trockenen Lippen und schien die Hände nicht ruhig halten zu können. „Wir sollten vorher bloß alles mit einem RFID-Löscher absuchen, wer weiß, was Kim uns außer Geistern noch hinterlassen hat. Gib mal her, das Ding.“ Damals war das Schattenlaufen noch viel einfacher, ohne diesen ganzen Hightech-Drek. War alles viel unkomplizierter. Man musste nur zusehen, nicht erwischt zu werden und das war’s dann auch schon. Jetzt lauerten die unsichtbaren Gefahren überall. Er hatte nicht nur kein Geld für ein Kommlink, er wollte gar keines haben. Er war nicht nur aus der menschlichen Gesellschaft ausgestiegen sondern auch aus der digitalen.

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#164

Also stand es fest, sie würden versuchen den Johnson zu retten. Das war ihm bislang noch nicht passiert, allerdings hatte bislang auch noch kein Teammitglied die anderen Runner verraten. Irgendwann war immer das erste Mal. Der Johnson konnte nicht gewarnt werden, jedoch wussten sie, wann und wo Kim zuschlagen würde. Was das betraf, so waren sie auf dem gleichen Informationsstand. Da die Gruppe vorerst zur Untätigkeit verurteilt war, machte Quigg einen Vorschlag: „Dann lasst uns schon mal zur City Mall fahren und uns einen Überblick verschaffen. Anschließend können wir besser planen.“

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#166

„Geht ihr schon mal rein und schaut euch unauffällig um. Ich warte hier solange. Muss nachdenken.“ Er hockte sich neben den Wagen und fing an, sich mit zittrigen Fingern eine Zigarette zu drehen. „Und, hey!“ rief er hinterher, „bringt mal ’n bisschen Alk und Dosenfutter aus’m Stuffer mit!“ Auf die fragenden Gesichter seiner Chummers - nach Kims Verrat waren sie das wohl, zumindest vorerst – hatte er eine verschmitzt lächelnde Antwort parat. „Keine Sorge, is’ nich’ für mich. Schmierflüssigkeit, soka?“

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#168

Die anderen waren gerade außer Sichtweite, da strollte Quigg gemütlich den Parkplatz entlang, auf die schattigeren Bereiche zu. Die Zigarette hing lässig im Mundwinkel. Wo eine Mall ist, da sind Leute; wo Leute sind, waren Squatter nicht weit. Auch bei einer recht laxen Sicherheitspolitik gab es ein paar Trunkenbolde, die nicht still vor sich hinbettelten und rausgeschmissen wurden. Trotzdem fanden sie immer wieder auf wundersame Weise einen Weg hinein. Quigg war auf der Suche nach genau diesen Typen.

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#170

Quigg war immer wieder selbst davon erstaunt, welch flüssigen Bewegungsabläufe mit synapsenbeschleunigten Hochleistungsgelenken möglich sind, auch wenn man die Garantiezeit bereits überschritten hat. Er hat die Augen offen und sich von der Kolonne des Misserfolgs fern gehalten. Elegant und unauffällig strebt er möglichst weit weg von der Security ohne dabei panisch zu wirken. Ein ausdrucksloser Blick wirkt manchmal Wunder. Und wenn er den Schergen nicht in die Quere kommt, lassen sie ihn in Ruhe. Wünschenswert, da er noch nicht einmal seine frisch gewonnenen Freunde zu Hilfe rufen kann. Erst ein biometrischer Scan auf der Wache würde seine makellose SIN offenbaren. Aber bis man so weit war, vergingen manchmal einige Stunden, diese Erfahrung hatte er bereits öfter machen müssen, als ihm lieb war. Und gegen ganze fünf Bullen hatte sogar er keine Chance.

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#172

Standardkontrolle. Sicherlich. Quigg überkam die Erkenntnis, dass er Kim unterschätzt hatte. Er hatte sich denken können, dass das verratene Team versuchen würde, den Johnson zu warnen. Und Kim hatte dies in seine Planungen einbezogen und – vollkommen uneingennützig natürlich - wahrscheinlich die Sicherheit vor einem bevorstehenden „Anschlag durch Terroristen“ oder ähnlichen Drek gewarnt. Eine Personenbeschreibung hätte er in dem Falle gleich mitgegeben.

Quigg war blind in die Falle gelaufen, was ihn noch mehr ärgerte als die Tatsache, dass die Sicherheit ihn abgefangen hatte. Langsam, eher gemütlich, drehte er sich zu den Wachleuten um und präsentierte ein entwaffnendes Lächeln in seinem bärtigen Gesicht. „Meinen Sie mich, Sir?“ fragte er sanft wie ein unschuldiges Lamm. Seine SIN war sauber, er hatte gegen kein Gesetz verstoßen bei der Überquerung des Parkplatzes, so gesehen hatte er nichts zu befürchten.

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#174

Quigg machte sich dünne - und zwar hurtig. Mit einem unschuldigen Lächeln steckte er den altertümlichen Credstick wieder in eine seiner vielen Taschen und ärgerte sich, dass die Sicherheit auf ihn aufmerksam geworden war und nun seine Daten hatte. Würde er bei einem krummen Ding gesehen, wäre es erstmal vorbei mit der Freiheit. Er vermutete ganz stark Kim dahinter; bestimmt hatte dieser seine Vorbereitungen getroffen. Und die Anderen tappten in diesem Moment in eine andere Falle wenn sie die Mall betraten. Er schaute sich erst nach zwanzig Metern wieder zu den Wachmännern um und versuchte einen unauffälligen Kurs in Richtung der Squatter außerhalb der Mall zu finden. Sobald er hier wieder weg kam, war unbedingt ein ernsthaftes Teamgespräch angesagt und er musste einige dringende Maßnahmen ergreifen. Deren Ausmaß behagte ihm überhaupt nicht, noch nicht einmal der Gedanke daran.

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#176

Sobald die Wachleute außer Sicht- und Hörweite sind schlenderte Quigg zu den Tippelbrüdern in der Nähe der Ladefläche. Sie waren geschützt, denn sie hielten sich nicht auf dem Grundstück selbst auf, konnten aber zu den Mahlzeiten blitzschnell zu den geräumigen Müllcontainern flitzen. Durch ein geweitetes Loch im Zaun hockten sie unter den Büschen einer abgeschiedenen Ecke des Nachbargrundstücks, hatten ihre Schlafstätten auf dem hart getrampelten Boden ausgebreitet und fristeten ihr erbärmliches aber freies Leben.

Er fragte höflich nach Erlaubnis und setzte sich zu ihnen, seinen Rucksack, mit der Ingram in Reichweite, als Rückenpolster an einen struppigen Busch gelehnt. Der Tradition der freien Männer gemäß berichtete er freimütig über sich, ohne brauchbare Hinweise zu hinterlassen, sollte es doch ein Polizist geschafft haben sich einzuschleichen, und ließ dann eine Flasche seines Wild Turkey die Runde der durstigen Kehlen machen. Es dauerte eine Weile bis er die von Natur aus misstrauischen Männer von seiner Aufrichtigkeit überzeugen konnte, dann fragte er im lockeren Gespräch, was die Gruppe über die Mall wusste. Er flocht seine gezielten Fragen geschickt ein um nicht unhöflich zu wirken, das verbat die Etikette, von der so mancher Japanokon beeindruckt gewesen wäre. Besonders interessierte ihn, wo man sich gut und wo lieber nicht aufhalten sollte und vor allem, wie er die Mall unbemerkt betreten konnte.

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#178

„Danke für den Tipp, Bruder.“ nickte Quigg und reichte dem Squatter erneut die Flasche. Die gelbliche Flüssigkeit hatte bereits fast den unteren Etikettrand erreicht, die Audienzzeit neigte sich dem Ende entgegen. „Gibt’s nich’n Hintereingang oder so? Wenn man ungesehen rein will, weiste.“ Er senkte die Stimme und schaute sich verschwörerisch um. „Hab’ gehört da soll was abgehen und dachte mir, vielleicht fällt da ein kleines Stückchen für mich ab, verstehste? Wenn ich irgendwo warte, vielleicht will ja jemand an mir vorbei flüchten, der sich da auskennt. Soka?“ Er ging davon aus, dass er mit seinem Bericht eine positive Antwort entlocken konnte und außerdem durch die gezielte Desinformation den Squatteranteil im Besucherstrom zu seiner eigenen Tarnung erhöhen konnte.

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#180

Quigg verstand sehr und wohl und genau, worauf der Tippelbruder hinaus wollte. Allerdings hatte er nichts, was er dem Mann geben konnte. Er klimperte seine letzten 15 Nuyen aus den Tiefen seines Parkas. „Ich bin kein Runner, der sich als Squatter verkleidet, soka? Will nur überleben, so wie du. Mehr habe ich nicht, Freund.“