Drei Monate nach den Ereignissen in Kapitel 1
Bellevue, Seattle, UCAS
Die taghellen Scheinwerfer des behördenschwarzen GMC Commodore durchschnitten das Dunkel der milden Sommernacht und erleuchteten die gepflegten Straßen des lückenlos umzäunten Wohnviertels Medina. Ein entgegenkommender Dodge Charger von Desert Storm Security verdeutlichte nachdrücklich die hohe Patrouillenpräsenz des privaten Sicherheitsdienstleisters, die den gut betuchten Anwohnern ein angenehmes Gefühl der Sicherheit gab, das entscheidend zu Medinas Exklusivität beitrug.
Der GMC bog in die aufwändig gepflasterte Einfahrt eines Reihenhauses ein und hielt an. Der Motor erstarb. Mit einem Seufzer, der seine Müdigkeit verriet, stieg Assistant District Attorney* Thomas Reeves aus und lockerte seine verkrampften Schultern. Er sah an sich herunter und bemerkte, dass sein maßgeschneiderter Anzug einen zerknautschten Eindruck machte. Seine Mundwinkel senkten sich genervt über sein desolates Erscheinungsbild, dann warf er die Wagentür zu, die sich mit einem satten Klicken schloss. In Reeves AR erschien sofort die leuchtende Befehlskonsole für die Diebstahlsicherung seines Dienstwagens, die er mit einem Gedanken aktivierte. Das AR-Display bestätigte seine Eingabe, blendete sich aus und ließ ihn einsam im Halbdunkel der Einfahrt seines Reihenhauses zurück. Für einen Augenblick stand Reeves einfach nur da und sah blicklos auf die grau lackierte Haustür, die von einem schwachen Nachtlicht indirekt angestrahlt wurde.
In seinem Rücken glitt ein nachtschwarz gekleideter Schemen geschmeidig um das kantige Heck des Commodore und richtete eine kompakte Schnellfeuerwaffe auf den scheinbar ahnungslosen Mann. Obwohl die flüssigen Bewegungen der dunklen Gestalt absolut lautlos waren, musste Reeves aber doch irgendetwas wahrgenommen haben. Mit einer schnellen Drehung wandte er sich um und blickte der unbekannten Person überrascht in die Augen. Einen Herzschlag später löste ein sanfter Druck auf den Abzug der superkompakten Schusswaffe eine schallgedämpfte Salve panzerbrechender Projektile aus, die seinen Oberkörper glatt durchschlugen. Thomas Reeves war tot, bevor er auf dem sorgfältig verlegten Pflaster seiner Einfahrt aufschlug.
* Stellvertretender Bezirksstaatsanwalt
Drei Tage später
Marysville, Salish-Sidhe-Council
Unter der goldgelben Mittagssonne eines wolkenlosen Sommertages flog eine schneeweiß lackierte Passagiermaschine mit den dunkelblauen Konturen und dem elegant geschwungenen Schriftzug von Cascade Air über die küstennahen Ausläufer des Kaskadengebirges nach Süden. Die zwei kraftvollen Rotoren der kleinen Cessna C750 brummten beruhigend, während sich in der Ferne allmählich die Kuppe des ehrfurchtgebietenden Mount Rainier aus dem azurblauen Horizont schälte.
Irgendwie war Lysander an eine Reihe von VIP-Tickets für das spektakuläre Kanuten-Festival des Salish-Sidhe-Council in Vancouver gelangt und hatte ihnen nicht nur die begehrten Karten vermacht, sondern auch ein Flugzeug mitsamt Piloten für das Wochenende gechartert. Und so waren sie am Samstag nach Norden geflogen, hatten eine Reihe spannender Kanurennen gesehen, zwei atemberaubende Nächte gefeiert und befanden sich nun auf dem Rückflug nach Seattle. Man konnte eine neue Woche sicher schlechter beginnen.
Angus Bluefeather, der schmal gebaute Ork auf dem Pilotensitz, tippte Franklin lässig auf die Schulter. Der frühere Pilot eines Frachtflugzeuges der Salish Rangers hatte den ehemaligen Combatbiker als verwandte Seele erkannt und ihm deshalb auf beiden Flügen den Platz des Copiloten angeboten. Nur zu gerne hatte er Franklins neugierige Fragen zu seiner bewährten Propellermaschine beantwortet und ihm auch so einiges über das Fliegen im Allgemeinen erzählt. Als Franklin ihm nun einen fragenden Blick zuwarf, deutete Angus mit gestrecktem Arm aus dem Steuerbordfenster. „Marysville“, erklärte ihr amerindianischer Pilot lakonisch.
Zu ihrer Rechten tauchte unter ihnen eine kleine Stadt inmitten der dicht bewaldeten Landschaft auf. Noch weiter in Richtung Westen war, wie auch während der meisten Zeit ihres ereignislosen Fluges, in der Ferne das ruhige Wasser des Puget Sound zu sehen. Das stumpfgraue Band der Interstate 5, welche die Grenzstadt von Nord nach Süd durchschnitt, war auf diese Entfernung kaum zu erkennen, aber Franklin wusste, dass der stark frequentierte Highway schnurgerade nach Everett auf der UCAS-Seite führte und sich direkt hinter Marysville die Grenze des heimischen Metroplex befand.
Ein breites Lächeln erschien unter Angus verspiegelter Sonnenbrille, als sich ihr Pilot zu seinen vier weiteren Passagieren umdrehte, die es sich in den ebenso vielen superweichen Loungesesseln bequem gemacht hatten, die den Innenraum der kleinen Cessna beinahe vollständig ausfüllten.
„Wir landen bald auf dem Renton Municipal Airport, Leute“, sagte Angus gut gelaunt. „Bringt schon einmal eure Sitze in eine halbwegs aufrechte Position und nehmt die Finger aus der Minibar.“